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Das Ende der Angst

Die Arbeit von WADI im Kontext der Befreiung des Irak

Vortrag von Thomas Uwer
Dezember 2003


»Die Herrscher des alten Mesopotamiens leiteten ihre Macht vom großen Enlil her. Dieser furchtbare Gott versinnbildlicht ‚die Macht der Gewalt, des Zwanges. Wer widerstrebt, wird unterdrückt und geschlagen, bis er sich unterwirft.’ Obgleich man annimmt, dass der Gott seine Gewalt nicht willkürlich anwendet, „kann der Mensch sich Enlil gegenüber nie sicher fühlen, stets plagt ihn heimliche Angst«. Angesichts dessen ist es äußerst bezeichnend, dass der Herrscher bestrebt ist, sich mit Enlil oder seinen göttlichen Abkömmlingen zu identifizieren. Die sumerischen Könige identifizierten sich gewöhnlich mit Enlil selbst. Die Babylonier behielten die Grundidee bei aber wandelten sie ab. Hammurabi betrachtete sich als von Enlil ‚berufen’ und nannte Enlils Sohn Sin seinen göttlichen Vater. In beiden Fällen betonen die mesopotamischen Herrscher die Furchtbarkeit ihrer Macht.« ( Karl August Wittfogel, Die orientalische Despotie, 185f)


1. »Denke nicht an Dich, denke an die Zukunft Deines Volkes«

An die Außenwand eines Zellenblocks des Bagdader Zentralgefängnisses sind mit einfachen Strichen Figuren gemalt. Ringer, Läufer, Springer stellen die olympischen Disziplinen dar und spiegeln die perfide Harmlosigkeit einer Welt wider, in der jede Äußerung bereits den tödlichen Hinweis auf einen klammheimlichen Verrat enthalten konnte. Um sicher zu gehen, haben die Häftlinge eine Widmung neben die Olympioniken gepinselt: „Dem Direktor des Gefängnisses zum Tag der Revolution.“ Dahinter befinden sich Zellen, die auf einen Innenhof führen, dem wiederum Zellen folgen. Bis zu 30.000 Menschen saßen hier noch vor kurzem ein, in etwa 20 Trakten wie diesem. Keiner von ihnen konnte Laufen, Springen, Ballspielen, mancher stand in einer der Einzelzellen, deren Grundfläche gerade einen Quadratmeter misst, andere in Massenzellen mit mehr als 80 Personen. In Abu Ghraib wurde gefoltert und exekutiert. Mitunter wurden hier gleich mehrere hundert Häftlinge am Tag erschossen, wie 1998, als Saddam Husseins Sohn Uday persönlich die »Säuberung« des völlig überfüllten Gefängniskomplexes befahl und in wenigen Tagen über 2.000 Gefangene wahllos hinrichten ließ - gerade einen Steinwurf entfernt von der Wand, auf die Häftlinge das olympische Bild malten. Die gleichen Gefängnisse, die gleichen Bilder wird man überall im Lande finden. Anonyme Sportlerfiguren, olympische Ringe, Rennautos und Fußbälle sind an alle Häuserwände gepinselt und haben die Saddam-Bilder überdauert. Als stumme Zeugen einer Diktatur, die keinen Ausdruck für die Gewalt erlaubte, die dem Lande angetan wurde, zieren sie die Eingänge zu Parks, Schulen und Restaurants oder werben für Friseure, Schuhmacher und Automechaniker. Oder sie wurden von Häftlingen an die Außenmauer ihres Gefängnistraktes gemalt, von dessen Innenwänden Saddam Husseins Konterfei ihnen die Parole der Züchtigung verhieß: »Denke nicht an Dich, denke an die Zukunft Deines Volkes.«

Am 9. April rückten amerikanische Truppen in die irakische Hauptstadt ein und befreiten den Irak, ohne dass es die vielerseits angekündigte verlustreiche Verteidigungsschlacht um Bagdad je gegeben hätte. Praktisch über Nacht war der gesamte Staat Saddam Husseins verschwunden, ohne dass jemand erklären konnte, wie ein Apparat, der die Welt über Jahre in Atem und die Region des Nahen Ostens tödlich bedroht hatte, zusammenfallen konnte, als wäre er aus Papier. Zurück blieb eine Gesellschaft, die während der dreißig Jahre ba’thistischer Herrschaft in eine hermetisch abgeriegelte Welt verwandelt wurde, innerhalb derer nur das als wahr gelten konnte, was den ideologischen Prämissen der herrschenden Staatspartei entsprach. Noch heute scheint es, als habe die elende Uniformität, die allen Diktaturen eigen ist, im Irak jeden Ort und alles Gesellschaftliche erobert. Die öde Monumentalität schlammfarbener Betonklötze, die schon im Bau befindlich zu verfallen scheinen, die Büsten und Statuen, die revolutionären Tugendsprüche - sie haben jede individuelle Äußerung erstickt in einer einzigen heroischen Geste kollektiven Willens.

Jenseits dieses Willens, dessen idealer Ausdruck Saddam Hussein darstellte, sollte es kein Wollen geben. Im selben Maße, in dem im Irak tendenziell alles als »politisch« galt, konnte auch die privateste Äußerung nur dann harmlos sein, wenn sie von jedem Interesse gereinigt war, das sich über das des Kollektivs erhob. Das Leben im Irak unter Saddam glich dem Rezept zum Überleben, das der ins amerikanische Exil geflohene deutsche Soziologe Wittfogel einst in seiner Studie über die »orientalische Despotie« aus dem Mesopotamien des Altertums herleitete. »Die Furcht des gemeinen Mannes, in Misslichkeiten verwickelt zu werden (...) mahnt [ihn zur] Vorsicht, jede unnötige Berührung mit der Regierung zu vermeiden. ... Die Leute, die sich aus dem Staub machen, wenn sie Hilfe bringen könnten, sind nicht anders oder schlechter als andere Menschen. Aber ihr Verhalten macht augenscheinlich, dass die freiwillige Anteilnahme an öffentlichen Angelegenheiten unter den Bedingungen totaler Macht äußerst gefährlich ist. Die Furcht, sich mit einer unkontrollierbaren und willkürlichen Regierung einzulassen, veranlasst den vorsichtigen Bürger, nicht über die engen Grenzen seiner Privat- und Berufsangelegenheiten hinauszugehen. Die Furcht trennt ihn wirksam von allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft.« Die infantile und gesichtslose Bildsprache des Profanen, die, jeder Individualität beraubt, sich in harmloser Ausdruckslosigkeit erschöpft, entsprang der Furcht. Die Quelle dieser Furcht wurde von den staatlichen Kunsthandwerkern in Statuen und Schaubildern verewigt, die Saddam als Saladin oder Nebukadnezar zeigen –als modernen Sohn Enlils.

Diese Vorgeschichte des aktuellen Irak ist notwendig, um zu verstehen, vor welchen ungeheuren Aufgaben die Irakis heute stehen, wenn sie sich daran machen, nicht nur die daniederliegende Infrastruktur, die Ölraffinerien und Elektrizitätswerke wieder aufzubauen, sondern eine auf demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen fußende Gesellschaft zu errichten. Denn schwerer als die sichtbaren Zerstörungen, die 35 Jahre Diktatur im gesamten Land hinterlassen haben, wiegt die Zerstörung gesellschaftlicher Bindungen und die vollständige Unterdrückung dessen, was Hannah Arendt als grundlegende Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens beschrieb: Dass Menschen einen Platz in dieser Welt haben, der ihnen das Geschehen erklärbar macht und ihnen ermöglicht, Interessen zu formulieren. Das verzweigte System sozialer Bindungen und Beziehungen, das sich nicht nur – wie hierzulande vielfach leichtfertig angenommen – auf ethnische und religiöse Zugehörigkeiten beschränkt, sondern vielmehr auch regionale und Klassenstrukturen, politische und soziale Organisationen sowie das gesamte Spektrum primordialer Beziehungen von der engsten Familie bis zu Clan und Stamm umfasst, sind von der Ba’thpartei in der Vergangenheit systematisch unterminiert und zerstört worden. Das eigentlich Besondere und Auffällige an der Befreiung des Irak im Frühjahr 2003 war nicht die Wut, die sich im Sturm auf die Bilder, im Looten und Niederreißen staatlicher Symbole Platz schuf, sondern die Leere, die danach entstand. Die Befreiung des Irak hatte keine eigene Ästhetik und keine Symbole außer jenem des nach oben gerichteten Daumens, mit dem die irakischen Kinder amerikanische Soldaten begrüßten. Diese unheimliche Leere des Irak nach der Befreiung entspricht der vollständigen Vernichtung gesellschaftlicher Beziehungen, dem gegenseitigen Misstrauen nach der Erfahrung einer auf Geheimdienstapparate und Angst fußenden Herrschaft, die selbst vor den engsten familiären Bindungen nicht halt machte. »Reconstruction« im Irak bedeutet daher auch und viel weiter gehend den Wiederaufbau sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Strukturen auf der Grundlage von Recht und Freiheit anstatt der alles durchdringenden Angst. Die Fähigkeit, eigene Interessen überhaupt zu artikulieren, Rechte einfordern zu können, muss erst restituiert werden. »Nachhaltigkeit«, jene Grundforderung entwicklungspolitischer Arbeit seit mehr als 20 Jahren, bedeutet im Irak: Die Schaffung nachhaltiger sozialer Strukturen.

Wie tief das allgemeine Klima von Angst und Gewalt in die zwischenmenschlichen Beziehungen selbst in den privatesten Bereichen eingedrungen ist, zeigt das Beispiel irakischer Frauen.


2. Frauen im Irak

Innerhalb des beginnenden Demokratisierungsprozesses kommt dem Einsatz für eine Gleichberechtigung irakischer Frauen eine herausragende Rolle zu. Denn Gewalt erfahren Frauen eben nicht nur von staatlichen Organen, sondern vor allem auch aus den näheren Familienstrukturen und dem alltäglichen Lebensumfeld. Entgegen weitverbreiteten Vorstellungen vom vermeintlich säkularen oder fortschrittlichen Charakter des irakischen Regimes wurden brutale Praktiken gegen Frauen nicht nur geduldet, sondern auch gefördert. Ende der Achtziger Jahre erließ die irakische Regierung das sogenannte »Gesetz über die persönliche Moral«, demzufolge männlichen Angehörigen u.a. Straffreiheit bei Gewalttaten gegen ihre weiblichen Familienmitglieder eingeräumt wird, wenn damit ein »Vergehen gegen die Ehre« gesühnt wird. Auf diese Weise wurden Tötungen »aus Ehre« legalisiert und eine totale männliche Verfügungsgewalt über Frauen staatlich verfestigt. Tatsächlich kommt es im gesamten Irak immer wieder zu Morden an Frauen aus »Ehrgründen«.

Von der unter der Ba'thpartei praktizierten Sippenhaft hatten vor allem Frauen zu leiden, die anstelle abwesender männlicher Verwandter bestraft oder aber als Druckmittel gegen diese missbraucht wurden. Regelmäßig wurden die Frauen von Beschuldigten in die »Untersuchungen« der Verfolgungsorgane miteinbezogen und dabei systematisch gedemütigt und vergewaltigt. Bereits Mitte der Neunziger Jahre wies der seinerzeitige UN-Sonderberichterstatter für Menschen-rechte im Irak darauf hin, dass die Sicherheitsorgane »spezielle Vergewaltiger« unterhielten.

Seit Jahren auch weisen Organisationen wie UNICEF darauf hin, dass von der schlechten ökonomischen und sozialen Situation im Lande vor allem Frauen betroffen seien. Eine überdurchschnittliche Anzahl von Frauen sind Analphabeten. Besonders in den letzten Jahren des irakischen Regimes, in denen dieses die Last des Embargos voll auf die Bevölkerung abwälzte, während es immer neue Paläste, Moscheen und Militäranlagen bauen ließ, litten die Frauen doppelt unter der sich verschlechternden ökonomischen Lage und der politischen wie geschlechtsspezifischen Unterdrückung. Jene Frauen, deren Männer in den Kriegen, die der Irak geführt hat, ums Leben kamen oder die - wie bspw. im kurdischen Nordirak - im Rahmen staatlicher Repressionskampagnen verhaftet oder ermordet wurden, tragen die Verantwortung für das Überleben der Familie alleine. Möglichkeiten, ein legales Einkommen zu erwerben, sind für Frauen zugleich noch geringer als für Männer. In den vergangenen Jahren konnte beobachtet werden, wie die Armut Frauen in Bagdad zur Prostitution gezwungen hat. Das irakische Regime antwortete auf derartige Entwicklungen regelhaft nur mit weiteren Repressionen gegen Frauen. So wurden Ende 2000 mehr als 100 Frauen, denen Prostitution zur Last gelegt wurde, öffentlich enthauptet.

Hunderttausende irakische Frauen sind schwer traumatisiert. Die sog. Anfal-Witwen, deren Männer in den 80er Jahren verschleppt wurden, wissen bis heute nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Aber auch familiäre Gewalt gegen Frauen stellt eine riesiges, wenn auch meist verschwiegenes Problem im Irak dar. Noch immer herrschen in großen Teilen des Irak ungebrochen patriarchale Wertvorstellungen. Töchtern wird es in vielen Fällen nicht gestattet, den Mann ihrer Wahl zu heiraten. Es gibt keine Anlaufstellen für misshandelte Frauen, die Rechtssprechung bevorzugt bislang einseitig die Männer. Frauen, die misshandelt wurden, werden in der Regel nicht als Opfer, sondern als Schuldige betrachtet und gelten als "ehrlos".

Die schlechte Situation der irakischen Frauen zeigt, wie wenig die familiären und sozialen Verhältnisse von einer insgesamt geforderten Demokratisierung zu trennen sind. Der demokratische Neuanfang im Irak wird sich daran messen lassen müssen, ob es gelingt, Rechte für die irakischen Frauen gesellschaftlich zu verankern.


Frauenprojekte

Seit 1993 arbeitet WADI im Nordirak, seit 1994 unterhalten wir eine ständige Außenstelle in Suleymaniah. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf Projekten zur Unterstützung von Frauen, wie z.B.:

- die Durchführung eines Alphabetisierungsprogramms für Frauen:

Von 1993 bis 1998 hat WADI Alphabetisierungsklassen für Frauen durchgeführt. In enger Zusammenarbeit mit lokalen Frauenorganisationen wurde ein zwei-stufiges Lernprogramm entwickelt, das den besonderen Anforderungen erwachsener Frauen entsprach. Über die Alphabetisierungs-kurse wurden Anlaufstellen für Frauen in ländlichen Gegenden und den sogenannten Collective Towns der Region eingerichtet sowie ein lokales Netzwerk "Chra" mit initiiert, über das die Alphabetisierungskurse mit Büchern und Material versorgt wurden. Die Kurse wurden neben der Alphabetisierung genutzt, Aufklärungskampagnen durchzuführen über Gesundheits- und Rechtsfragen, den Schutz vor Minen etc. Unterstützt wurde das Programm von UNICEF und dem Kurdischen Ministerium für Bildung.

- die Einrichtung von Frauenbibliotheken

In Kifri sowie in Suleymaniah sind aus den Alphabetisierungskursen selbst-organisierte Frauenvereine hervorgegangen. Diese Vereine wurden unterstützt durch die Einrichtung von "Frauenbibliotheken", die als Treffpunkt dienen und Literatur sowie Zeitungen bereithalten. Über die Frauenbibliotheken werden weiterhin Trainingskurse angeboten.

- die Unterstützung inhaftierter Frauen

1995 begann WADI mit der Unterstützung inhaftierter Frauen in Suleymaniah. Die Insassen des dortigen Frauengefängnisses wurde mit einer eigenen Küche sowie Nahrungsmitteln zur Selbstversorgung unterstützt, Alphabetisierungs-kurse und Trainingsprogramme wurden durchgeführt. Im Frauengefängnis von Arbil wurde im Mai mit der Einrichtung einer Bibliothek begonnen.

- die Einrichtung von zwei Zentren für Frauen in sozialen und psychischen Notsituationen

1999 wurde das NAWA Centre for Women in Distress in Suleymaniah eröffnet. Das Zentrum, das von WADI in enger Zusammenarbeit mit lokalen Frauen-organisationen errichtet wurde, zielt auf die Behandlung und Betreuung von Frauen mit psychischen Problemen und innerfamiliären Auseinandersetzungen ab. Dazu zählen bspw. auch wohnungslose Frauen, die auf der Straße leben, aber Opfer von sexueller Gewalt. Bis zu 30 rauen können stationär im Zentrum aufgenommen werden, zur Betreuung stehen eine Ärztin, eine Psychologin, sowie ein Team von Sozialarbeiterinnen zur Verfügung. Ein "Mediation Team" verhandelt zwischen den Frauen und ihren Familien über Lösungs-möglichkeiten innerfamiliärer Probleme. Darüber hinaus unterhält NAWA eine offene Beratungsstelle sowie eine Telefonhotline, über die sich Frauen anonym an die Mitarbeiterinnen wenden können. Das NAWA Centre war die erste Einrichtung dieser Art im gesamten Irak. Seit der Eröffnung des Zentrums wurden rund 600 Frauen intensiv betreut. 2001 wurde das Zentrum offiziell in das Programm des kurdischen Sozialministeriums aufgenommen.

Angeregt von dem Erfolg des NAWA Centres richteten sich elf lokale Frauen-organisationen mit der Bitte an WADI, die Errichtung eines ähnlichen Zentrums in Arbil zu unterstützen. Das KHANZAD Centre in Arbil wurde im Dezember 2002 eröffnet und betreut seitdem kontinuierlich rund 50 Frauen. Ein weiteres Zentrum wurde gerade in Mosul eröffnet, ein Zentrum für Kirkuk ist in Vorbereitung (s.u.).

Neben diesen Frauenprojekten arbeitet WADI seit 1993 an sozialen Programmen für Gefangene und ehemalige Gefangene, für Internal Displaced Persons (in der Hauptsache Familien, die im Rahmen der Arabisierungs-kampagnen vertrieben wurden) und Flüchtlingskinder in den Elendsquartieren der Städte. Hier wurden beispielsweise durchgeführt:

Alle diese Projekte zielten und zielen auf:

  • die Unterstützung von Selbsthilfe und -organisation
  • die Stärkung der Rechte von Frauen und marginalisierten Gruppen
  • der Aufarbeitung erlittenen Unrechts und der Rehabilitation
  • den Aufbau langfristiger sozialer Strukturen vor Ort
  • der Weckung von Aufmerksamkeit und Anerkennung von Rechten
  • dem demokratischen Ausgleich von Interessen
  • der Förderung lokaler Strukturen und Organisationen

Aus den Projekten sind qualifizierte lokale Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hervorgegangen. Mit ihrer Hilfe ist es nach dem Sturz des Ba'thregimes möglich geworden, die begonnene Arbeit auch auf andere Teile des Landes auszudehnen und die erworbene Projekterfahrung weiterzureichen.

Beispiel: Mobile Teams – aufsuchende Hilfe

Mitte April haben vom kurdischen Nordirak aus von WADI organisierte »Mobile Teams« zur Betreuung von Frauen und Kindern ihre Arbeit aufgenommen. Ursprünglich wurden sie als Soforthilfe aufgestellt, um Frauen auf der Flucht zu unterstützen und ihnen ärztliche und psychologische Betreuung zukommen zu lassen. Ängste und Sorgen über zurückbleibende oder verschollene Familienangehörige, Hunger, körperliche und seelische Verletzungen bedürfen jedoch einer kontinuierlichen Begleitung. Viele sind mit dem Sturz des Regimes und den erneuten Kampfhandlungen auf ihre alten Traumatisierungen zurückgeworfen.

Kurdische Frauen, deren männliche Angehörige im Zuge der Anfal-Operationen vor Jahren verschleppt und verhaftet wurden, werden damit konfrontiert, dass die letzten Hoffnungen auf deren Überleben zerstört wurden.

Das Ende der Diktatur Saddam Husseins wurde von den Menschen im kurdischen Nordirak begeistert begrüßt. Städte wie Kirkuk und Mosul sind zum ersten Mal frei zugänglich auch für lokale und internationale Hilfsorganisationen. Zum ersten Mal auch, so hörten wir immer wieder, könne man ohne Angst leben und sehe eine Zukunft im eigenen Land. Zugleich aber wurde auch das ganze Ausmaß der Zerstörung deutlich, die das Regime hinterlassen hatte.

Um schnelle und effektive Hilfe für Frauen und Kinder zu leisten, wurde die Arbeit dieser Mobilen Teams ausgedehnt und intensiviert. Monatlich helfen die Teams seitdem Tausenden von Frauen und Kindern in den Regionen Hawraman, Suleymaniah, Kirkuk, Mosul, Khanakhin, Germian und Arbil.

Angebunden an die von WADI unterstützten Frauenzentren und Schutzhäuser NAWA, Khanzad und Asuda beraten die Teams Frauen in familiären und individuellen Notlagen, leisten medizinische Erste Hilfe und klären Frauen und Kinder über ihre Rechte auf. Kranke Frauen werden in Krankenhäuser überführt, an besonders bedürftige Familien werden Kinderkleider, Spielzeug und Milchpulver verteilt. Zudem werden Frauen, die unter familiärer Gewalt leiden oder schwer traumatisiert sind, an eines der bestehenden Frauenhäuser zur Weiterbehandlung vermittelt.

Vier mobile Teams betreuen inzwischen das Gebiet zwischen Arbil und Mossul im Nordwesten und Halabja und Khanaqin im Südosten. Von Suleymaniah aus arbeitet ein Team in der die Region Hauraman nahe Halabja, in der bis vor kurzem die »Ansar al-Islam«, eine radikalislamische, dem Terrornetzwerk al-Kaeda nahestehende Organisation, geherrscht hat. Zwei Teams haben gerade ihre Arbeit in der etwas westlicher gelegenen Region Germian begonnen, wo ein großer Teil der Dörfer bis vor kurzem unter der Kontrolle des Ba’thstaates stand. In den neu befreiten Gebieten des Nordirak stärken die Mobilen Teams die sich bildenden Strukturen von Selbstverwaltung, klären über die Folgen ba’thistischer Gewaltherrschaft auf und helfen Hinterbliebenen und Opfern.

Dies trifft auch auf die Region um Kirkuk und die Dörfer um Mosul zu. Die Arbeit in Kirkuk und Mosul, wo Kurden, Araber, Turkmenen und Assyrer leben, stellt einen Schwerpunkt der Aktivitäten der Teams dar. In der Vergangenheit hat das Regime Saddam Husseins hier eine sog. »Arabisierung« durchgeführt, Hunderttausende von Kurdinnen und Kurden wurden vertrieben, an ihrer statt Araberinnen und Araber zwangsangesiedelt. Die Mobilen Teams in Kirkuk bestehen aus Araberinnen, Kurdinnen, Turkmeninnen und Assyrerinnen und versuchen so, die ethnische Teilung aufzuheben. Sie haben sich selbst zum Ziel gemacht, für ein multinationales und friedliches Mitein-ander in der Stadt zu arbeiten.

Neben konkreter Hilfe vor Ort erheben die Mobilen Teams Daten zur Infrastruktur (Wasserversorgung, Gesundheitswesen etc.), führen Umfragen zu sozialen Fragen (Gewalt in der Familie, Ehrtötungen etc.) durch und helfen, wenn es gewünscht wird, weiterführende Projekte wie Alphabetisierungs-schulen und Ausbildungskurse vorzubereiten.

Beispiel: Frauenschutzhäuser in Suleymaniah, Arbil und Mosul

Als 1999 WADI in Zusammenarbeit mit verschiedenen Frauenorganisationen das »NAWA Center for Women in Distress« in Suleymaniah eröffnete, war dies die erste Einrichtung in der gesamten Region, die Frauen in Notsituatio-nen Unterkunft und Hilfe bot. Inzwischen konnte das NAWA Zentrum über 600 Frauen helfen. Seit 2002 gibt es in Arbil das »Khanzad Home«, das nach dem Vorbild von NAWA funktioniert.

Mit Unterstützung des Weltgebetstages der Frauen wird WADI nun in Mosul ein drittes Frauenschutzhaus einrichten und unterhalten. Ein geeignetes Gebäude wurde mit Hilfe des neu gewählten Magistrates der Stadt gefunden. Auch in Kirkuk plant WADI die Einrichtung eines Frauenzentrums. Mosul und Kirkuk sollen Pilotprojekte werden für die Einrichtung weiterer Frauenhäuser in den jüngst befreiten Landesteilen des Irak werden.

Zwei Fälle aus dem Khanzad Home

F., 22 Jahre alt, stammt aus Qala Dize. Sie war die erste Frau, die Hilfe im Khan-zad Home fand. F. hat eine vierjährige Tochter, die mit ihr im Zentrum lebt. Seit fünf Jahren sind die beiden auf der Flucht vor männlichen Angehörigen, die sie ermorden wollen. F.s Leidensgeschichte beginnt 1997. Damals war sie 16 Jahre alt und ihr älterer Bruder heiratete ein Mädchen aus der Nachbarschaft. F. war Teil der Abmachung, die über die Hochzeit gefunden wurde. Sie wurde gezwungen, den beinahe 60jährigen Onkel ihrer neuen Schwägerin zu heiraten. Als ihr Ehemann nach der geburt einer Tochter begann sie zu prügeln, lief sie davon. Als Vergeltung für diese »Schande« versuchte ihr Bruder sie zu ermorden. F. floh vor ihrem Bruder nach Arbil. Drei Jahre lebte sie mit ihrer Tochter im Gefängnis, wo sie zum Schutz vor Angriffen untergebracht wurde. Seit Sommer 2002 befindet sie sich in der Obhut des Khanzad Home.

Khanzad verhandelt seit dem mit der Familie – ohne Erfolg. Der Ehemann weigert sich, in eine Scheidung einzuwilligen, der Bruder hält an seinen Mordplänen fest. Mit Unterstützung einer Anwältin sucht F. jetzt die Scheidung auf dem Klageweg zu erzwingen. Die Chancen stehen gut, dass das Gericht in Arbil ihr Recht geben wird. Danach wird versucht, F. und ihrer Tochter in einem anderen Landesteil ein neues Leben zu ermöglichen.

C. ist 23. Sie wuchs auf in einem Dorf nahe Rania. Im Januar 2003 kam C. ins Khanzad Home nachdem sie acht Monate im Gefängnis versteckt wurde. Im Juni 2002 wurde C. zu Hause von einem Bekannten ihres Vaters überfallen, geschlagen und vergewaltigt. C überlebte nur mit knapper Not. In den Augen ihrer männlichen Angehörigen ist C. durch die Vergewaltigung »entehrt«. Um die Familien»ehre« wiederherzustellen, beschlossen Vater und Bruder, sie zu töten. Eine Nachbarin half C. zu fliehen und sorgte dafür, dass sie im Frauengefängnis von Suleymaniah in Schutz gebracht wurde. Im Januar 2003 wurde C. ins Khanzad Home gebracht.

Nach langen Verhandlungen mit der Familie hat diese von ihren Morddrohungen abgelassen – bis auf einen Onkel, der sich eine finanzielle Entschädigung für seine »Generosität« verspricht. Mit Hilfe von Khanzad wurde ein Strafverfahren gegen ihren Angreifer eingeleitet. C. bleibt vorerst im Khanzad Home.


3. Demokratisierung

Unter dem Schutz der Koalitionstruppen hat sich eine Übergangsregierung formiert, die aus den verschiedenen Konferenzen der irakischen Oppositionsgruppen in den vergangenen Monaten heraus gebildet wird. Einigkeit besteht darüber, dass die territoriale Integrität des irakischen Staates auch künftig gewahrt werden soll. Anstelle zentralisierter Herrschaft streben die vertretenen Parteien und Gruppen eine föderale Ordnung und ein demokratisches Rechtssystem an, innerhalb dessen sowohl die Individualrechte irakischer Bürger, als auch die Ansprüche und Rechte von Religionsgemeinschaften und Volksgruppen gleichermaßen gewährleistet sind.

Dieser Versuch einer Demokratisierung steht vor vielen Problemen. Kein Iraker unter 35 Jahren hat jemals etwas anders erlebt, als die omnipräsente Herrschaft der Ba'th-Partei, die vom Kindergarten bis zum Seniorenverein die gesamte Realität gesellschaftlichen Lebens nach ihren ideologischen Prämissen umgestaltet hat. Hunderttausende waren eingebunden in den Staatsapparat Saddam Husseins und damit mehr oder weniger involviert in die Verbrechen des Regimes. »Das außergewöhnliche Problem der ba'thistischen Gewalt«, schrieb Kanan Makiya, »wird deutlich, wenn man bedenkt, daß routinemäßig Hunderttausende völlig durchschnittlicher Leute in sie verwickelt waren.« Ba'thistische Herrschaft war nicht auf Erlass und Umsetzung diktatorischer Dekrete beschränkt, der Staat beanspruchte alle Lebensbereiche bis hinein in die Privatsphäre. Regionale, familiäre und primordiale Beziehungen wurden - wo sie nicht zerschlagen wurden - von der Ba'thpartei okkupiert. Menschen wurden gezwungen, Informationen über Angehörige, Freunde, Kollegen und Nachbarn zu sammeln. Kollaboration wurde auch belohnt. Die Universitäten und die Wissenschaft wurden umorganisiert, eine neue Geschichte des Irak verfasst. Die Besonderheit der ba'thistischen Herrschaft, versuchte die israelische Historikerin Ofra Bengio das Phänomen zu erklären, bestehe darin, dass ihr Ideologie nicht nur die Verbrämung anderer Interessen war, sondern sie die ideologischen Prämissen in Wirklichkeit überführte. Unter dieser Vorraussetzung wurde alles politisch, selbst die harmloseste Unterhaltung noch konnte einen tieferen Sinn enthalten und ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen.

Von zentraler Bedeutung für jede künftige Regierung des Irak wird daher nicht nur die Aufarbeitung von Unrecht in rechtsstaatlichem Rahmen und die Inkraftsetzung einer demokratischen und föderalen Verfassung durch eine Interimregierung sein, sondern der Aufbau ziviler Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Die Neuordnung des Irak folgt dabei noch längst nicht abgeschlossenen Konzepten. Auf lokaler Ebene wird entschieden werden, was sich als national durchsetzungsfähig erweisen kann. Eine Demokratisierung »von oben« wird ohne die Schaffung demokratischer Strukturen in den alltäglichen Bereichen des Lebens nicht möglich sein. Die Befreiung von der Diktatur kann nicht im Nachhinein dekretiert werden, sondern zeichnet sich zu aller erst durch die Freiheit der Menschen in konkreten und alltäglichen Lebensbereichen aus. Im Zentrum der Bemühungen, den Wiederaufbau und die Demokratisierung des Irak zu unterstützen muss daher das Engagement für die Rekonstruktion sozialer Beziehungen und Strukturen stehen, die statt auf Gewalt und Angst auf Recht und den Ausgleich von Interessen fußt. Die Lage der Frauen im Irak ist hier – wie überall – ein Gradmesser für den erfolg dieser Bemühungen. Wie erfolgreich der Wiederaufbau des Irak ist, wird sich letztlich daran messen lassen, ob den irakischen Frauen nach allem erlittenen Unrecht nunmehr endlich die bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Leben zugestanden wird, die ihnen zusteht. Die Selbstorganisation von Frauen, zwei große Konferenzen irakischer Frauen in Hillah und Suleymaniah (die von WADI mitgetragen und –finanziert wurden), das Entstehen von Frauenzentren und -zeitungen im ganzen Lande sind der beste Hinweis darauf, dass die lange Herrschaft der Despotie im Irak nunmehr ein Ende gefunden hat. Denn Befreiung bedeutet vor allem: Das Ende der Angst.


Vortrag gehalten in der evangelischen Akademie Bad Boll

Ein Schwerpunkt der Arbeit von WADI liegt neben der Unterstützung von Frauen in der Betreuung von Häftlingen, ehemaligen Gefangen und Folteropfern im Irak.


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