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Eliminatoren und Bezwinger

Die „Hauptopfer der Weltgeschichte“ als latent Homosexuelle, die Schwule hassen

von Christian Knoop

„Die meisten muslimischen Kulturen haben gegenüber Homosexualität eine indifferente, wenn nicht gar bewundernde Haltung“, schrieb im Jahre 1980 der schwule Geschichtsschreiber und Yale-Professor John Boswell. Dass der Islam traditionell eine „positive Einstellung gegenüber schwuler Sexualität“ habe, so Boswell weiter, zeige schon die Lektüre der klassischen arabischen Dichtung, die „Schwule und ihre Sexualität mit Respekt oder lockerer Akzeptanz“ behandle, aber auch die Verbreitung männlicher Prostitution in herkömmlichen moslemischen Gesellschaften oder die historisch belegten Liebesbeziehungen zahlreicher islamischer Herrscher, Gelehrter oder sonstiger Würdenträger zu jungen Männern oder Knaben. (1) Hass gegenüber schwuler Sexualität, so liest man auch in sogenannten linken Publikationen, sei ein Importgut aus dem Westen, eingeschleppt von europäischen Kolonialisten, die die „gesunden“, toleranten Strukturen der arabischen Gemeinschaften zerschlagen hätten und die dort Lebenden zwängen, sich unter anderem auch auf eine eindeutige – binäre, wie es im politisch korrekten Sprech heute heißt – Geschlechtsidentität festzulegen. Vor dem Einfall europäischer Truppen habe es das ganze Problem nicht gegeben: Die Männer, so die Behauptung, hätten irgendwo zwischen Freundschaft und sexueller Begierde frei und ungestraft Zärtlichkeiten und Freundschaftsbeweise ausgetauscht und miteinander auch schon einmal den Geschlechtsakt vollzogen. Sie seien aber nie in die Verlegenheit gekommen, sich als ausschließlich schwul zu outen und sich so außerhalb der patriarchalisch strukturierten Gemeinschaft zu stellen.


Orgien in Siwa

Obwohl es im arabischen Raum, ähnlich wie im europäischen Mittelalter, Schwule tatsächlich selbst im Bewusstsein derer, die sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen, bis heute kaum gibt – schon der Umstand, dass es im Hocharabischen kein Wort für Homosexualität gibt, spricht für diese These –, nahm die Verfolgung offen praktizierter gleichgeschlechtlicher Sexualität nicht erst mit der Kolonialgeschichte ihren Anfang.

Nach der 1820 erfolgten Eroberung der in der libyschen Wüste liegenden Oase Siwa ordnete der osmanische Gouverneur Ägyptens, Muhammed Ali, nicht nur die Plünderung der mit archäologischen Fundgruben reich gesegneten Stadt und den Ausbau der Oasengruppe zum militärischen Vorposten an, sondern versuchte zudem die eine oder andere Gepflogenheit ihrer etwa 10.000 Einwohner zu unterbinden. Die Abgeschiedenheit der von zwei Berberstämmen bewohnten Oasenstadt hatte bis dahin neben einem eigenen Berberdialekt, auch eine ganze Reihe anderer Besonderheiten zu bewahren geholfen: Aufgrund der auch in Siwa rigide praktizierten Trennung der Geschlechter lebten dort die Frauen und Familien innerhalb der Stadt, während alle unverheirateten jungen und freien Männer Siwas, „Zaggalahs“ genannt, in außerhalb der Stadtmauern liegenden Zeltstädten angesiedelt waren. Die Jünglinge begnügten sich dort nicht damit, wie in reinen Männergemeinschaften nicht unüblich, aufgrund des Mangels an Frauen, an die sich die fleischliche Begierde heften könnte, sich klammheimlich einen anderen Mann zum Gespielen zu suchen, sondern feierten regelrechte Sexorgien: „Die Parties während des Tages waren eher ruhig. Aber abends, wenn sie betrunken waren, begannen sie im Kreis zu tanzen. Dabei zogen sie sich bis auf den Gürtel aus, rieben sich aneinander und führten erotische Tanzbewegungen aus.“ (2) Doch auch damit nicht genug: Unter den „Zaggalah“ waren sogar Männerehen üblich, die ähnlich den heterosexuellen mit einer Art „Ehevertrag“ besiegelt wurden. „Darin sah man durchaus nichts Verachtenswertes, das sorgfältig verheimlicht werden müsse; im Gegenteil wurden bis vor nicht allzu langer Zeit [bis 1904] derartige Heiraten unter Männern ganz öffentlich mit großen Gepränge gefeiert.“ (3) Die Versuche Alis und anderer, die in ganz Ägypten bis heute Verschrieenen von ihrer offen praktizierten Homosexualität abzubringen, scheiterten zunächst. Unter dem Einfluss des islamistischen Senussi-Ordens, der Siwa zu einem seiner Zentren ausbaute, verschärfte sich jedoch das Vorgehen gegen die „Schwulenehen“, die spätestens seit 1928 nur noch heimlich zelebriert werden konnten. Schließlich gelang es dem Panarabisten Nasser in den 1950er Jahren, die Ausübung der noch existierenden „Zaggalah“-Bräuche zu verbieten. Nichts desto weniger gilt Siwa nicht nur in Ägypten bis heute als Hochburg verhältnismäßig offen praktizierter mann-männlicher Sexualkontakte. Schwule Sextouristen – überwiegend aus Europa – machen einen Großteil der Besucher der Oasenstadt aus.


Schwulenclubs in Kairo

Doch nicht nur in der Oasenstadt Siwa wurde und wird versucht, öffentliches schwules Leben zu unterbinden. Die Besucher des „Queen Boat“, eines Nachtclubs auf einem Nilschiff in Kairo, müssen ausgesprochen überrascht gewesen sein, als in der Nacht des 11. Mai 2001 die ägyptische Polizei das Schiff stürmte, das bis dahin einer der wenigen geduldeten inoffiziellen Treffpunkte ägyptischer Schwuler war. Ihre Überraschung wich allerdings Entsetzen, als die Polizei fast alle Besucher des Schiffes verhaftete, da sie keine weibliche Begleitperson vorweisen konnten, und sie rektal „untersuchte“, um festzustellen, ob sie zuvor Analverkehr gehabt hatten. Doch die „Spurensicherung“ allein reichte den ägyptischen Behörden nicht aus. Einige der 52 Festgenommenen erzählten später, dass sie unter der Folter gezwungen worden waren, ihre „Geringschätzung der Religion“ zu „gestehen“, die sich daraus ergebe, dass sie sich „unmoralischen Verhaltens“ schuldig gemacht und „Ausschweifungen“ hingegeben hätten. Obwohl der Prozess international sehr beachtet wurde, Amnesty International eine „urgent action“ zugunsten der Inhaftierten startete, weltweit Schwulenorganisationen vor ägyptischen Einrichtungen protestierten, Mitglieder des Repräsentantenhauses der USA sich schriftlich an die Regierung Ägyptens wandten und der französische Präsident Chirac erfolglos persönlich bei seinem Freund Mubarak vorsprach, wurde er nicht eingestellt, sondern endete im November 2001 mit 29 Freisprüchen und 22 Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren. Da Homosexualität in Ägypten zwar ein gesellschaftliches Tabu ist, aber anders als z.B. in Algerien keinen strafrechtlichen Verfolgungsgrund mehr darstellt, wurden die bei der Razzia verhafteten Schwulen, wegen „des Verdachtes auf Perversion“ (FR, 08.10.2001) angeklagt, was mit Hilfe eines schwammig formulierten Paragraphen, der „unzüchtiges Verhalten in der Öffentlichkeit“ (NZZ, 07.09.2001) unter Strafe stellt, zu legitimieren versucht wurde.

Dass man dergleichen Tatbestände lieber vor der geistlichen als der staatlichen Gerichtsbarkeit verhandelt und die betreffenden Männer lieber nach der Scharia als dem „bürgerlichen“ Strafgesetzbuch gerichtet sähe, versucht nicht einmal die weltliche Führung des Landes zu verschleiern. Die Mehrzahl der ägyptischen Politiker ist sich mit den Imamen und mit einer großen Mehrheit aller Ägypter, von denen einige sich zu Prozessbeginn in wüsten Beschimpfungen der Angeklagten ergingen, darin einig, dass die angeklagten Männer sich einer „Sünde wider Gott“ schuldig gemacht und die „natürlichen Grenzen, die Gott (...) gesetzt hat“, überschritten hätten (NZZ, 07.09.2001). Damit haben sie sich nach islamischem Recht nicht nur der Homosexualität schuldig gemacht, sondern sich zugleich gegen die gottgegebene Ordnung vergangen, was mit der Leugnung des Islam gleichbedeutend ist. Dieser schwerste Straftatbestand wird nach der Scharia mit der Todesstrafe geahndet. Demnach lautete die Botschaft des formal säkularen Ägyptens an die sich langsam entwickelnde, kleine Schwulenszene von Kairo: Übertreibt es bloß nicht!

„Es gibt keinen Raum, Muslim und schwul zugleich zu sein“, verkündet Taher Jaber al-Awani, Präsident des Kollegs für Islamstudien in Leesburg, Virginia, apodiktisch. Genau deshalb, so pflichtet ihm Ali Mansur, Mediziner an der University of Missouri, bei, hätte „ihnen [den Besuchern des Queen Boat] niemals erlaubt werden dürfen, ihre Aktivitäten auf ägyptischem Boden auszuführen“. (Ebenda) Wenn man einer Minderheit, und sei sie auch noch so marginal, zugestünde verhältnismäßig frei die eigenen Triebe auszuleben, dann lasse man zu, dass die Sexualität partiell von den Fesseln der Ehe befreit werde, die in islamischen Ländern der einzige erlaubte Rahmen ist, in dem der Geschlechtsakt vollzogen werden darf. Wenn man also zuläßt, dass die Lust individualisiert wird, so lautete die unausgesprochene Befürchtung nicht nur der Mullahs und ihrer Anhänger, dann gerate die gesamte Ordnung der Gemeinschaft in Gefahr.


Mann vs. Nicht-Mann

In islamischen Gemeinschaften, fielen lange bevor es die Schwulen als eindeutig definierte Gruppe überhaupt gab, die Frauen, die traditionell mit unsublimierten Triebansprüchen identifiziert wurden und werden, einem rigiden Sittengesetz zum Opfer. Die Gesetze des Koran schreiben nicht nur vor, dass die Frau hinterm Vorhang (purdah) sich zu verstecken hätte, sie greifen auch unmittelbar in das Geschehen zwischen Mann und Frau ein, indem sie etwa regeln, wie und wann der Beischlaf zu erfolgen habe, um Allah zu Gefallen zu sein.

Doch nicht nur das biologische Geschlecht des Einzelnen ist dafür ausschlaggebend, was er in der Gemeinschaft gilt; auch die Rolle, die er im Akt selbst einnimmt, ob er Penetrierender oder Penetrierter ist, ob er Besitz ergreift oder genommen wird, entscheidet über seinen Status mit. Erstere gelten als Männer, letztere als Nicht-Männer, zu denen neben Frauen und Mädchen auch Knaben, Transvestiten, „effeminierte“ Männer und – bedingt – Nicht-Moslems, beispielsweise in Gestalt von Touristen, gezählt werden. Für die das arabisch-islamische Mittelalter prägende städtische Mittelschicht gehörten ferner Sklaven sowie Nomaden, Eunuchen aber auch unterworfene Feinde zur Gruppe der Nicht-Männer. (4)

Seit dem arabisch-islamischen Mittelalter existieren Gedichte, Märchen und Lieder, in denen Knaben, denen die Sehnsucht der Autoren häufig gilt, ähnlich umschrieben werden wie z.B. im europäischen Minnegesang und auch in der arabischen Dichtung selbst die Frauen. Gepriesen wird die „Zartheit, Weichheit“ der Knaben, die zärtlich als „Arsch-Gebende“ oder „Gefickte“ bezeichnet werden. Der Penetrierende, der Mann, wird hingegen als „Eliminator“, oder „Bezwinger“ verherrlicht, der den Penetrierten „schlägt“ oder „abhakt“.

Wie in der europäischen Dichtung des Mittelalters bleibt auch die Sehnsucht arabischer Poeten eine unerfüllte, die oftmals – wie in der türkischen Arabesk-Musik der Gegenwart – mit dem Tod des „Liebenden“ endet oder in blinden Hass umschlägt. Aus der Tatsache, dass viele Dichter, darunter so berühmte wie Abu Nuwas, der Hofdichter des Kalifen Harun Al-Rashid, die Schönheit der Knaben in den blumigsten Worten priesen, ein angeblich „schwules“ arabisch-islamischen Mittelalters zu basteln, wie es verschiedene schwule Geschichtsschreiber z.B. John Boswell tun, sollte sich eigentlich von selbst verbieten. Wie in der antiken Dichtung, existiert der Knabe auch in der arabischen ausschließlich als Objekt, an das sich die Begierde eines erwachsenen Mannes heftet. Nicht von gleich zu gleich wird er besungen, nicht auf seine freie Zustimmung zum Akt hingearbeitet, sondern erwogen, wie der „Geliebte“ vom „Liebenden“ am Besten bestochen, überlistet oder notfalls überwältigt werden kann. „Ich jedenfalls“, so bemerkt der Islamwissenschaftler Arno Schmitt treffend, „halte eine Beziehung, in der einer spricht und einer schweigt, in der einer spricht und der andere besprochen wird, in der einer Sex will und der andere Geschenke, nicht für ,schwul’“. (5)


Öffentlichkeit als Kontrollinstanz

Wie den „Geliebten“ in der Dichtung dominierten die freien erwachsenen Männer im arabisch-islamischen Mittelalter den privaten und den öffentlichen Raum. Im „Haus“ herrschten sie über ihre Frauen und Sklaven, außerhalb kontrollierten sie den öffentlichen Raum. Sex mit Jungen oder männlichen Prostituierten machte sie zwar im privaten Lebensbereich im religiösen Sinn zu „Sündern“, doch beeinträchtigte dies weder ihre öffentliche Position als Mann noch „beschmutzte“ ihr Tun – anders als es bei einer Frau der Fall gewesen wäre, die sich einem anderen als dem ihr Angetrauten hingibt – die Ehre der ganzen Familie. Im Gegenteil: Die Penetration eines erwachsenen Mannes, die Überwältigung des ihm Gleichen, verstärkt eher noch die Hypermaskulinität des Haushaltsvorstandes. Symbolisiert diese Penetration doch in stärkerem Maße als der Akt mit einem oder einer Unfreien, sei es eine Frau, ein Prostituierter, ein Knabe oder ein Sklave, seine Überlegenheit und Macht über einen Starken und dennoch Passiven. So wurden im Kalifat männliche Eindringlinge in den Harem den männlichen Sklaven zur Vergewaltigung überlassen, unterworfene Feinde zur zusätzlichen Erniedrigung penetriert – ein schon aus der griechischen Antike bekanntes Phänomen.

Das vorläufige Scheitern islamischer Expansionsbemühungen und schließlich der Zerfall des Osmanischen Reiches und damit des Kalifats, bedeutete zwar das Ende der alten Ordnung, an dem überlieferten Verhältnis der Geschlechter wurde aber um so verzweifelter fest gehalten, je weiter sich traditionelle Eigentums- und Produktionsverhältnisse auflösten. Die einzige Macht, die dem seines gesellschaftlichen Gewichts und seines ökonomischen Einflusses beraubten Patriarchen noch aktiv auszuüben blieb, war die über die Frauen, die Kinder, die „Nicht-Männer“ eben, denen weiterhin bloß außerhalb des öffentlichen Raumes zu existieren zugestanden wird. Nichts erscheint ihm daher bedrohlicher als die Vorstellung von erwachsenen Männern, die Freude am passiven Sexualverkehr mit anderen Männern empfinden, Männern, die freiwillig auf das verzichten, was ihm sein letztes Gut zu sein scheint: Die Möglichkeit im Akt der Penetration von einem anderen aktiv Besitz zu ergreifen.

Die Knabenliebe, die organisierte Päderastie, ist im gesamten Nahen und Mittleren Osten und im Maghreb auch heute noch ein Massenphänomen. Die Ethnologin Ingeborg Baldauf kam z.B. bei einer Studie in Afghanistan zu dem Ergebnis, dass ca. 70 Prozent der männlichen Bevölkerung in päderastische Handlungen involviert seien. (6) Doch auch in anderen Ländern des islamischen Raumes, wie z.B. Marokko, ist die Prostitution von Knaben weit verbreitet. Für den Mann ist der Knabe deswegen leichter erreichbar als die Mädchen und Frauen, weil dieser mit der Beschneidung von der Mutter getrennt wird und sich unerfahren und leicht zu beeindrucken fortan in der Welt der Männer bewähren muss.

Wird ein Knabe penetriert, gilt dies in den Augen des gesellschaftlichen Umfeldes als nicht so gravierend wie bei einem erwachsenen Mann oder, wenn auch aus anderem Grund, bei einer unverheirateten Frau. Der Knabe hat es dadurch nur „schwerer“, die weibliche Rolle wieder los und zum Mann zu werden. Die Schmach ist ferner je nach sozialer Schicht des Knaben und des Penetrierenden und von Region zu Region unterschiedlich. Ist die Familie des Knaben arm, wird Prostitution oft geduldet; ist der Penetrierende eine hochgestellte Persönlichkeit – etwa einer der unzähligen angeblichen Nachfahren des „Propheten“ oder ein Mullah –, wäre es zudem zutiefst ungehörig, sich über den Missbrauch zu beschweren. (7) Solange die Sache geheim bleibt, ist eh alles in Ordnung, denn, so ein arabisches Sprichwort: „Eine verborgene Schande ist zu zwei Dritteln vergeben“. Irreparabler Schaden für den Ruf und die Ehre der Familie tritt erst ein, wenn die Kunde davon, dass sich ein Spross der Familie – aus welchen Gründen auch immer – hat penetrieren lassen, an die Öffentlichkeit dringt.


Kulturen der Schuldzuweisung, Ideologie der Ehre

Der an Allah Glaubende kann im Laufe seines Lebens zum Sünder werden, wenn er es nicht nach den Gesetzen des Propheten ausrichtet und verliert so den Schlüssel zum Paradies. Doch er lädt nicht Schuld, sondern Schande auf sich, wenn er sich gegen die religiösen Gesetze und letztlich gegen Allah vergeht und wird schlimmstenfalls schon im Diesseits aus der Gemeinschaft verstoßen.

Historisch gründet die Angst vor Isolation und Ausschluss aus der Gruppe in den nomadischen Beduinengesellschaften, in denen es kein Privateigentum gab. Dieser äußere Druck, nur in der Gemeinschaft überlebensfähig zu sein, führte zu einem enormen Anpassungszwang, denn auf keinen Fall durfte man den Status eines vollwertigen Stammesmitgliedes verspielen. Aufgrund der absoluten und heute zumindest noch nominellen Oberherrschaft der Familie in arabischen Gesellschaften ist es irrelevant, ob das Familienoberhaupt oder irgendein anderes Mitglied der Familie oder Sippe eines schändlichen Verhaltens überführt wird: Die Schande trifft alle. Die „beschmutzte“ Familienehre muss daher durch entsprechendes Handeln wiederhergestellt werden. Insbesondere die Frauen gelten als symbolische und konkrete Träger der Ehre der Familie. Haben sie Schande über die Familie gebracht, etwa durch den Verlust ihrer Jungfräulichkeit vor der Ehe - wobei es keinen Unterschied macht, ob eine freiwillig eingegangene Liebesbeziehung oder eine Vergewaltigung der Grund des "Verlusts" war- , werden sie bestenfalls von der Familie ausgestoßen und vertrieben, schlimmstenfalls von den eigenen Brüdern oder dem Vater umgebracht (Ehrtötung). Durch Entfernen des für alle schädlichen weil schändlichen weiblichen Mitglieds der Familie, kann die Ehre wiederhergestellt werden. Die Tilgung der öffentlich gewordenen Schande und die Wiederherstellung der Reputation der Familie oder des Stammes, nicht aber der Sachverhalt oder die Gefühle bestimmen das Handeln.

Da aber nicht sein darf, was geschehen ist, wird die eigentliche Ursache für den der Schande zugrunde liegenden Sachverhalt oftmals äußeren Faktoren zugeschrieben, die Verantwortung für eigenes Tun abgelehnt und im Zweifel wilde Verschwörungstheorien präsentiert. Junge Männer, die sich durch Ehrtötung ihrer Schwester entledigten, argumentieren oft damit, dass sie die Tat deshalb begehen mussten, weil ihre Schwester, nachdem sie „westliche Werte“ adaptiert habe, zur Hure geworden sei. Der islamische Mann ist nach außen wie nach innen permanent mit dem Ziel in Kämpfe verwickelt, seine Ehre und die seiner Verwandten zu verteidigen. Der Kampf gegen den Westen, Symbol für die insgeheim ersehnten aber verbotenen Ausschweifungen und Zügellosigkeiten, richtet sich mit gleicher Härte und Gnadenlosigkeit nach innen. Der Krieg nach außen ist die Folge der misslungenen Versöhnung zwischen Es und Über-Ich, die bei erfolgreicher Konstitution des Ichs von eben diesem versucht wird. Der eigene innere Konflikt wird externalisiert, die grenzenlosen Ansprüche des Es mit dem Anderen identifiziert und als vermeintlich „fremde“, zersetzende und unmännlich Imaginierte in diesem mit brutalster Härte bekämpft und zu zerstören versucht. Sexualität, die nicht der Reproduktion oder der unmittelbaren Triebabfuhr dient, sondern zwei Menschen vereint, die in der Objektwahl sich gegenseitig als Subjekte erkennen, fällt diesem Diktum zum Opfer.


Einverleibung von Ungleichen

Der den Einzelnen äußerliche Kontrollmodus islamischer Gemeinschaften, die im Koran, den Hadiths und der Scharia gründenden Normen, die religiös begründeten Ge- und Verbote, deren Befolgung für den guten Ruf eines Jeden entscheidend ist, ersparen dem gläubigen Moslem die Ausbildung eines eigenen Gewissens. Die Angst, die eigene Nonkonformität könnte ans Licht kommen, dominiert alle Sexual- oder Liebesbeziehungen außer der Ehe und verhindert, dass die – mehr oder weniger – bewusst getroffene Entscheidung des entwickelten Ichs, das Gewissen und insgeheim gehegte Wünsche miteinander in Einklang kommen können. Nonkonform verhält sich unter der verbreiteten Variante zwischenmännlicher Sexualität in muslimischen Gesellschaften nur der Passive. Dadurch, dass er sich „bezwingen“ lässt, anstatt als „Eliminator“ aufzutreten, sich also der ihm qua Geburt zugeschriebenen Sexualrolle entzieht, gibt er sein Recht auf, weiterhin Teil des „auserwählten“ Zirkels zu sein. Nicht zufällig wurden daher in Ägypten all die Männer zu Haftstrafen verurteilt, bei denen aufgrund der rektalen Untersuchung der passive Analverkehr „nachgewiesen“ werden konnte.

Der Aktive hingegen gilt in der Öffentlichkeit, auch wenn sein Tun ruchbar wird, weiterhin als ganzer Kerl. Zwar handelt auch er nicht unbedingt in Einklang mit den Gesetzen des Islam, doch schon im Koran wird zwar tadelnd aber doch mit Nachsicht über dererlei Wüstlinge nachgesonnen: „Wollt Ihr Schandbarkeiten begehen? (...) Wahrlich Ihr [Männer] kommt zu den Männern im Gelüst statt zu den Weibern. Ja, ihr seid ein ausschweifend Volk!“ Nimmt sich der Mann nicht einen anderen, sondern einen Knaben zum Gespielen, wird ihm dagegen nicht einmal mehr mit Unverständnis für seine Wahl begegnet werden (8), fügt er so doch noch nicht einmal einem anderen „vollwertigen“ Mitglied der Gemeinschaft eine Schmach zu.

Nicht allein die Angst vor Sanktionen, lässt den Mann vom Verkehr mit seinesgleichen zurückschrecken. Anders als in den Gesellschaften des Abendlandes, in denen die Fixierung auf ein Objekt der Begierde, wie sie sich in der (bürgerlichen) Zweierbeziehung manifestiert, die auf die gegenseitige Eroberung nicht nur der Körper, sondern des ganzen Menschen aus ist, darf die Partnerin oder der Partner des islamischen Mannes keiner sein, der sich als ein Anderer behauptet, für sich Befriedigung einfordert und somit im Widerspruch zur hermetischen Abgeschlossenheit des Körpers des Mannes steht. Sein Ideal besteht nicht darin, sich und den Partner gegenseitig als Subjekt zu erkennen und vor diesem Hintergrund zum Verliebtsein vorzustoßen, sondern darin, sich im Akt der Penetration des Anderen zu bemächtigen, ihn auszulöschen, wie die Selbstbeschreibung als „Eliminator“ schon verrät. Der insgeheim gehegte Wunsch, einmal sich hingeben zu können wie einst der kleine Junge den liebkosenden Händen seiner Mutter, denen er im Zuge seiner Initiation unwiderruflich entrissen wurde, anstatt Befriedigung allein in der mühsamen und verhassten Entäußerung finden zu dürfen, diese Verlockung ist zu gefährlich, unterminiert sie doch alles, für das er als ausgewachsener Mann zu stehen hat.

Sexualität ist dem gläubigen oder allgemein traditionellen islamischen Mann daher nur denkbar als Einverleibung von Ungleichen. Frauen wie Knaben gelten nicht als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft, nicht als ganze Menschen. Die eigenen Interessen zu verfolgen ist ihnen untersagt, daher ist es einfach, sie zu bezwingen. Die gefahr, im Kampf um die Aneignung des Anderen zu verlieren, die unter Männern bestünde, ist beim Verkehr mit Frauen oder Knaben ausgeschlossen. Liebe hingegen existiert in islamisch dominierten Gesellschaften auch unter Männern. Scheinbar ohne Hintergedanken berührt man sich, küsst sich auf die Wange und herzt sich offen im Café-Haus, unschuldig wie Kinder, ganz so, als gäbe es das unbefriedigte Verlangen der Erwachsenen nicht, vermeint man miteinander umzugehen. Ganz so rein und unbelastet, wie man sie wähnt, war aber weder die Kindheit noch ist es die Gegenwart. Die scheinbar so arglose Freundschaft unter Männern ist auch im islamischen Raum permanent von homoerotischem Verlangen bedroht. Nicht umsonst erfüllen moderne Helden des Islamismus wie Mohammed Atta einige Klischees latenter und autoritärer Homosexualität: Alle Attentäter des 11. Septembers hatten den eigenen Körper durch Entfernung jeglicher Körperbehaarung und Schminke dem einer Frau anzugleichen versucht, alle waren von der paranoiden Angst verfolgt, eine verhasste Frau könnte die eigene Leiche nach dem Märtyrertod waschen und so verunreinigen. Aber auch der Mann, der ihn nach seinem Tode waschen sollte, so verfügte Atta in seinem Testament, müsse Handschuhe tragen, damit seine Genitalien nicht mit dessen nackten Händen in Berührung kämen.

Es ist nur scheinbar ein Paradox, dass gerade in patriarchalen und homophoben Gesellschaften gleichzeitig latente Homosexualität ein Massenphänomen ist. Die üblichen Indikatoren für Homophobie – Hass auf das Weibliche, Projektion unterdrückter sexueller Wünsche auf angeblich „zügellose“ und orgiastisch lebende Schwule sowie die Angst vor Vergewaltigung – sind gerade und besonders bei jenen Männern zu finden, die selbst zumindest homoerotische Wünsche, Phantasien und Bedürfnisse haben. Der unbewusste Selbsthass, den diese auslösen, wird durch Projektion auf den sichtbaren, bevorzugt effeminierten homosexuellen Mann zu Hass und Aggression auf diesen transformiert.


Burkas in Siwa

Auch die Männer aus der Oasenstadt Siwa, die ihre homosexuelle Orientierung nicht verbargen, und die Institution Ehe für sich entdeckten, waren kein Paradebeispiel frei oder ungehemmt gelebter Sexualität. Zwar gab es unter ihnen keine so klare Einteilung von aktiver und passiver Sexualrolle wie in anderen islamischen Gemeinschaften, doch auch sie zwangen ihre Frauen in Burka-ähnliche Ganzkörperverhüllungen und sperrten sie in den festungsähnlichen Stadtkern ein.

In den Schwulen von Kairo hingegen konkretisiert sich dem islamischen Mann das gleiche zersetzende Prinzip, das von ihm traditionell mit den Frauen, den sündigen Nachfolgerinnen Evas, identifiziert wird. Nicht zufällig werden die Schwulen ähnlich rigide verfolgt, wie man es mit den Juden gern täte, denn schließlich, so Sayyid Qutb, Vordenker der Muslimbrüder: „Die Juden befreien die sinnlichen Begierden von ihren Beschränkungen und sie zerstören die Grundlage, auf der der reine Glaube basiert. (...) Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckt ein Jude; hinter der Doktrin der animalistischen Sexualität steckte ein Jude und hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der geheiligten Beziehungen in der Gesellschaft steckte ebenfalls ein Jude.“ (9) Eine Vorstellung von Sexualität, in der auch das Penetriertwerden genossen werden darf, führt bei dem latent homosexuellen islamischen Mann zu wütendem Neid: Neid auf die angeblich zügellose, orgiastische, auch das Weibliche zulassende schwule Sexualität, die bei ihm selbst ein Leben lang unterdrückt blieb. Für die erstarrten Gesellschaftsstrukturen des Nahen Ostens ist diese Form von Sexualität, unabhängig davon, ob sie real stattfindet oder nur als Ideal existiert, eine fundamentale Bedrohung.

Die westlichen Freunde islamischer oder panarabischer Despotie, die wie z.B. die notorische Frau Schimmel in ekstatischer Verzückung das konzeptionelle Scheitern von Liebe feiern oder die mit Boswell über einen schwulenfreundlichen Islam räsonieren, sind sich nur allzu ähnlich. Sie opfern das Ideal gleichberechtigter oder gar „freier“ Liebe und Sexualität einer auf das scheinbar Ursprüngliche zurückkehrenden, von Qualen, Selbsthass und Unterwerfung geprägten Sexualität mit einem Beduinenjungen in der authentischen Wüste. Für sie sind die Schwulen in Kairo und anderswo, die sich wie die Schwulen hierzulande mittels Codes über die gehegten Präferenzen verständigen, ein nicht zu ertragender Störfaktor im ihnen verheißenen, ursprünglichen Land, weshalb auch sie ihnen schon im Diesseits die Hölle auf Erden zu bereiten versuchen. Das Entstehen von (noch) marginalen schwulen Subkulturen in Städten wie Kairo, Damaskus oder Beirut ist aber ebenso wie die stetig zunehmende Internetvernetzung von Schwulen im vom Baathismus befreiten Irak ein Beweis dafür, dass eine wachsende Anzahl von Männern, die Männer lieben, im Nahen Osten nicht mehr bereit ist, die Hölle im Diesseits einfach so hinzunehmen.

 

Anmerkungen:
1) Boswell, John: Christianity, Social Tolerance and Homosexuality, Chicago 1980, S. 194ff
2) Fakhry, A.: Siwa Oasis. It’s History and Antiquities, Kairo, 1944, 41
3) ebd. 43
4) vgl. hierzu: Schmitt, Arno: Kleine Schriften zu zwischenmännlicher Sexualität und Erotik in der muslimischen Gesellschaft, Berlin, 1985, S. 16ff
5) ebd. S. 18
6) Baldauf, Ingeborg: Die Knabenliebe in Mittelasien: Bacabozlik, Berlin 1988, S. 43
7) Bruce Dunne: Power and Sexuality in the Middle East, in Middle East Report, Spring 1998, S. 3
8) siehe Schmitt 1985
9) Sayyid Qutb, zit. nach: Gerhard Scheit, Suicide Attack, Freiburg 2004, S. 457

 

erschienen in Bahamas 46/2005


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