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Ten Years After

Apokalypse als Dauerzustand

Die Linke zwischen Krieg und Caritas.
Ein Blick auf die Folgen des Zweiten Golf-Krieges.


Von Thomas v. der Osten-Sacken und Thomas Uwer (WADI e.V.)


"Nur eine Rechnung, die im Untergange die einzige ratio des gegenwärtigen Zustandes zu finden sich eingesteht, käme von dem erschlaffenden Staunen über das alltäglich sich Wiederholende dazu, die Erscheinungen des Verfalls als das schlechthin Stabile und einzig das Rettende als ein fast ans Wunderbare und Unbegreifliche grenzendes Außerordentliches zu gewärtigen." (1)
Walter Benjamin, 1928


Es war der dritte oder vierte Tag des Golf-Krieges, als wir uns einmal mehr vor dem US-amerikanischen Generalkonsulat einfanden, diesmal um Solidarität mit Israel zu demonstrieren, wo in den Nächten zuvor die ersten irakischen Scud-Missiles eingeschlagen waren. Dem Aufruf der Jugendgruppen der Frankfurter jüdischen Gemeinde war als einzige politische Organisation die CDU gefolgt, deren Klientel die Veranstaltung bereits an sich gerissen hatte und begann, den Zaun des Konsulates von Antikriegstransparenten vorangegangener Kundgebungen zu säubern. Weil seinerzeit die meisten Demonstrationen wie zwangsgesteuert vor das US-Konsulat zogen, blieben sie nicht lange alleine. Im Handumdrehen brach ein Gerangel aus, Christdemokraten schlugen mit "Kill Saddam"-Schildern zu, Kriegsgegner skandierten "SS-SA-USA" und "Hoch die internationale Solidarität". Wir standen am Rande herum mit Freunden, die mit der anderen Demonstration gekommen waren, und schauten ratlos zu. Der Krieg war da, und wir waren weder Teil des Problems noch Teil der Lösung. Wir waren bestenfalls ein Teil der Landschaft (2).
Die Verwirrung, die sich 1991 in Szenen wie jener vor dem Frankfurter US-Konsulat äußerte, hält an. Der Widerspruch ist nicht aufgehoben, der sich damals in dem vagen Gefühl niederschlug, dass angesichts der politischen Konstellation des Golf-Krieges Solidarität im klassischen Sinne nicht mehr möglich sei. Schlimmer noch: Niemand bot sich mehr als jenes Gegenüber an, das der Solidarität bedarf. Während nämlich Solidarität mit Israel lediglich als Unterstützung in der Verteidigung gegen einen Angriff bestehen konnte, die nur durch die Hilfe von Regierungen und ihrer Militärmaschinerie bereitzustellen war, zeichnete sich gerade der Irak durch einen militärischen Expansionismus aus, der das rhetorisch behauptete Verhältnis zwischen imperialistischer Aggression und antikolonialem Befreiungskampf nahezu auf den Kopf stellte. Denn "immerhin (war) es der irakische Diktator, der Kuwait überfallen und damit den Konflikt ausgelöst hatte", dessen "aggressive Militärmacht (...) selbst ein Produkt imperialistischer Strategien" (3) war, und obwohl die entscheidenden Akteure - allen voran die USA - am Konflikt beteiligt waren, boten weder die Annexion Kuwaits noch der Angriff auf Israel eine Grundlage, den Krieg zumindest projektiv als ein Ringen um Emanzipation zu interpretieren.
Spätestens als rund zwei Millionen irakische Kurden nach einem spontanen Volksaufstand vor den Racheaktionen des irakischen Militärs flohen und ganz real Schutz nur von den westlichen Golf-Kriegs-Alliierten erhoffen konnten, war das Hussein-Regime trotz aller antikolonialistischer Rhetorik desavouiert. Mit dem (revolutionären) Subjekt aber war dem Krieg auch jede Perspektive abhanden gekommen, die Befreiung versprach. Ohne diese Perspektive, die zumindest durch einen Sturz der alten Herrschaft sich äußern müsste, verliert aber die gesamte Imperialismustheorie, die sich in der Praxis beweisen muss, ihren Sinn.
Dieser Mangel konnte auch durch die theoretische Ausweitung des Krieges als globaler Krieg der "Ersten" gegen die "Dritte" Welt nicht kompensiert werden. "Der Golf-Krieg war der erste Krieg, bei dem die USA den Söldner spielten für die Erste Welt, ein Krieg, der eigentlich ein Krieg der Rassen war. Damals brauchte man nur auf die Gesichtsfarbe einer Person zu schauen, und schon wusste man mit grosser Wahrscheinlichkeit, auf welcher Seite der Mensch stand." (4) Analysen wie diese von Noam Chomsky scheiterten am Subjekt des Saddam Hussein, der zum Hoffnungsträger der international Depravierten geriet, ohne ihnen eine Alternative bieten zu können.
Die andere Seite, die Chomsky unterstellt, existierte nicht mehr. Denn ein Soldat der US-Streitkräfte konnte vielleicht den Söldnerdienst gegen die Dritte Welt verweigern und desertieren; überlaufen konnte er nicht. Gleichsam mit der anderen Seite verschwand auch der Verantwortliche für einen Krieg, "bei dem es politisch unter höchst verzerrten Konstellationen im Kern um die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen ðersterÐ und ðdritterÐ Welt geht". (5)
Dem fehlenden Subjekt, das Befreiung versprach, standen subjektlose Strukturen gegenüber: "das imperialistische Weltsystem" und der "militärisch-industrielle Komplex" (6) einerseits, das "Scheitern des sowjetischen Modells" und die "Geschichte der missglückten Befreiung" (7) andererseits. Diese seltsame Subjektlosigkeit des ersten großen Krieges nach der Ära des Blockkonfliktes wurde rationalisiert in der Vorstellung von einem "unsichtbaren Vernichtungskrieg gegen das irakische Volk" (8), einer Vorstellung, die die Herrschaftsverhältnisse mit deren Wiederspiegelung - in diesem Falle CNN - vertauschte.
Übrigens ist keine der seinerzeit angestellten Prognosen eingetroffen. Kein Flächenbrand brach aus, die PLO war nicht auf Jahre hinaus diskreditiert, weder wurde Saddam Hussein gestürzt noch irgendwelche anderen arabischen Potentaten, vielmehr fand erst einden Friedensprozess von Oslo statt, um erst jetzt, zehn Jahre nach der Madrid-Konferenz, am Ende zu sein. Dass die politische Entwicklung anders verlief, lag nicht zuletzt daran, dass der Golf-Krieg in der Praxis zwar als technologisch höchst moderner geführt wurde, sich in seiner Zielsetzung aber als Krieg im Stile der Kabinettskriege des 19. Jahrhunderts entpuppte, der gar nicht darauf aus war, den Gegner zu vernichten. Die Apokalypse blieb genauso aus wie der Flächenbrand der Befreiung.

Embargo und Solidarität

In der aktuellen Diskussion um das UN-Embargo gegen den Irak zeigt sich, dass ohne die Perspektive der Befreiung die Verteidigung des Nationalstaates, in der sich die konkrete Kritik an der kolonialen Unterdrückung einst äußerte, zur starren Form geraten ist, die jede Chance auf Emanzipation aus sich liquidiert. Wie auch immer man das Embargo gegen den Irak einschätzen mag, es hat zweifelsohne um ein Vielfaches mehr Todesopfer gefordert als der Krieg selbst. Weder hat das "zivile Zwangsmittel" Embargo den Krieg verhindert, noch konnte es ohne militärischen Zwang aufrechterhalten werden. Alle über den Irak verhängten Auflagen des UN-Sicherheitsrates wurden mit militärischen Zwangsmaßnahmen durchgesetzt.
Innerhalb des Irak haben die Sanktionen den bereits vor dem Golf-Krieg einsetzenden sozialen Kollaps nur beschleunigt. Das erdrutschartige Wegbrechen der Klassenstrukturen wurde von der Klientelwirtschaft des Ba'ath-Staates lange zuvor antizipiert. Während die sozialen Folgen der Sanktionen rücksichtslos auf die Bevölkerung abgewälzt wurden, bot das Sanktionsregime eine perfekte Entschuldigung für das Versagen des Regimes.
Dem entgegen steht, was in der Terminologie des Kosovo-Krieges als Kollateralentwicklung bezeichnet werden müsste. Die mit dem Embargo verknüpfte außenpolitische Isolierung des Regimes hat dazu geführt, dass die 1991 als Unfall am Rande des Golf-Krieges entstandene kurdische Selbstverwaltung nach wie vor besteht und einen Raum bietet, innerhalb dessen Menschen zumindest vorübergehend wenn nicht frei von Verfolgung, so doch außerhalb des direkten Einflussbereiches irakischen Staatsterrors leben können. Die Chancen auf einen längeren Bestand der kurdischen Selbstverwaltung sind, da sie - ohne Einfluss der Kurden - an das Embargo gekoppelt ist, allerdings knapp bemessen.
Auf die von einem zehnjährigen Interim erzeugten Probleme reagieren Embargogegner wie -befürworter mit der Affirmation des Bestehenden. Während jene in der Logik der von der Ba'ath-Regierung bemühten anti-imperialistischen Rhetorik das Embargo als US-amerikanischen "Völkermord", das "stille Äquivalent zu zehn Hiroshima-Bomben" (9), geißeln, äußert sich in den Plädoyers für eine rabiate Durchsetzung der Sanktionen der durch Berufung auf die "internationale Gemeinschaft" unzureichend rationalisierte Wunsch nach einem außenpolitischen Diktat. Etwa wenn Thomas Dreger in der taz schreibt: "Nur das Embargo könnte die irakische Führung langfristig dazu zu zwingen, die Menschenrechte und internationale Konventionen zu achten - und zudem Umsturzbestrebungen unterstützen" (10) und sein Kollege Florian Harms fortfährt: "Grenzen zu, Ölleitungen abdrehen, Flugverbindungen streichen, Diplomatie einstellen." (11)
Die erhitzten Gemüter vermögen die Kälte kaum zu verbergen, mit der beide Seiten ihr außenpolitisches Planspiel durchkalkulieren. Gegnern wie Befürwortern fehlt jede Perspektive auf Veränderung einer Realität, die im Irak unter dem Sanktionsregime ebenso wie unter der souveränen Ba'ath-Herrschaft für Menschen unerträglich ist.
Die Tatsachen fordern sie auf, sich auf herrschende Gewalt positiv zu beziehen, wahlweise auf den Irak oder die halluzinierte "westliche Wertegemeinschaft". Solidarität aber kann sich auch zehn Jahre nach dem Golf-Krieg nicht in einer Haltung für oder wider das Embargo äußern. Denn anders als im Fall Kubas bietet sich das Irak-Embargo nur bedingt als reines Herrschaftsinstrument des Imperialismus an, ebenso wie auf der anderen Seite die positiv besetzten Akteure fehlen, die - wie der ANC im Falle Südafrikas - zu Sanktionen aufrufen, um die innenpolitische Gewalt des Regimes zu brechen.
Als Subjekt, mit dem man solidarisch sein sollte, bietet einzig die irakische Zivilbevölkerung sich an. Während Saddam Hussein sich propagandistisch benahm wie Fidel Castro und Nelson Mandela zuvor, kommt der auf Gedeih und Verderb vom Ba'ath-Regime abhängigen Bevölkerung nur die Rolle einer Akklamationsmasse zu. Nicht ganz zu Unrecht befürchten die Staaten der Anti-Irak-Koalition, dass mit einem Sturz der Hussein-Nomenklatura ein politisches Vakuum entstehen könnte, das die Region auf unabsehbare Zeit destabilisieren würde. Bereits 1991 war jede innerirakische Opposition vom Ba'ath-Regime liquidiert oder ins Exil und damit in die Bedeutungslosigkeit vertrieben worden. Unter den gegebenen Bedingungen ließ sich im Irak keine Befreiung machen.
Das lässt sich deshalb zehn Jahre danach so einfach sagen, weil sich weder die Bedingungen noch die Akteure seitdem grundsätzlich geändert haben. So kommt es, dass Saddam Hussein nach wie vor im Amt ist, und nichts deutet darauf hin, dass selbst nach seinem Ableben eine strukturelle Veränderung zu erhoffen wäre. Wie ein absurdes Zerrbild der Geschichtslosigkeit bürgerlicher Herrschaft, die den bestehenden Zustand als immer währenden beschreibt, besteht das Regime weiter und mit ihm der Konflikt. In der Stagnation der Verhältnisse ist auch deren ideologische Widerspiegelung erstarrt, nicht aber als beste aller möglichen Welten, sondern als Albtraum.

Das Ende des Laizismus

Das mussten vor allem diejenigen erleben, die in Saddam Hussein eine Alternative zu dem Leben sahen, das zu fristen sie gezwungen sind: Die Massen von Marrakesch bis Bombay, die Hussein bejubelten, nicht weil er eine Alternative anbot - die Menschen im Irak litten schon vor dem Golf-Krieg unter Terror und ökonomischem Niedergang, wahrscheinlich weitaus mehr als jene in vielen anderen arabischen Staaten -, sondern weil er die latente Gewalt in den so genannten internationalen Beziehungen manifest werden ließ. Bei seinem bislang letzten Auftritt aber war dieser Internationalismus nur noch eine Farce. Sein Held war der klassische Vertreter eines Typus, den Frantz Fanon bei der Beschreibung der Gefahren nationaler Befreiung als "Schmalspurfaschisten" (12) bezeichnet hat.
Dass dieses Problem sich gerade angesichts des Nahen Ostens zeigte, ist weder Zufall noch alleine ein Produkt der als "Neue Weltordnung" apostrophierten Umwälzungen seit dem Niedergang der Sowjetunion. Dass ein der panarabischen Ideologie verschriebenes Regime ein "arabisches Brudervolk" überfiel und seine ebenfalls pan-arabischen "Brüder" mit den USA gemeinsam gegen dieses Regime in einen Krieg zogen, ohne auch nur einen Moment von der eigenen antiimperialistischen Weltanschauung abzurücken, war ein offensichtlicher Widerspruch. Aus Sicht der Metropole diskreditierte er nicht nur die Massen, die Hussein zujubelten, sondern führte zu Erklärungen, die sich mittels essentialistischer Zuschreibungen auf die Suche nach dem vermeintlichen Wesen der Araber begaben.
"Für die Volksmassen - und dies nicht nur im Irak, sondern in sämtlichen arabischen Staaten - gilt er (Saddam Hussein) nun als Retter des Arabertums und des Islam. (...) Selbst dogmatische Linke erblicken in ihm den mutigen Staatsmann, der, im Gegensatz zu seinen Amtskollegen in anderen arabischen Staaten, den Imperialisten und Zionisten die Stirn zu bieten wagt." (13) Während sich die westliche Projektion auf den Orient, die Bahman Nirumand hier affirmiert, in Europa als Erklärungsmuster durchsetzte, fragte sich die aus Ägypten stammende Schriftstellerin Cherifa Magdi 1992, wieso arabische Intellektuelle angesichts des Einmarsches in Kuwait ausgerechnet den Irak verteidigt hatten und wie es zu jener "seltsamen Verkehrung von Ursache und Wirkung" hatte kommen können, die nicht mehr den Überfall auf Kuwait in den Vordergrund stellt, "sondern die damals erst geplante Entsendung amerikanischer Truppen in die Golfregion".
Ihre Fragestellung öffnet den Blick auf die nachkoloniale Geschichte des Nahen Ostens, die von irgendwelchen vermeintlichen Wesenseigenschaften weniger bestimmt wurde als von den gesellschaftlichen Eliten des arabischen Nationalismus. "Die Vergangenheit (wurde) beschworen, um Gegenwärtiges zu erklären - Saddam war Nasser, Irak wurde zum Ägypten von 1956 und 1967, des Suez- und des Junikrieges." (14)
In ihre Kritik an einer zu jeder Gelegenheit beschworenen vermeintlich besseren Vergangenheit - einer Invariante panarabischer Ideologie - bezieht Magdi zugleich die spezifische Form des Scheiterns antikolonialer Befreiung im Nahen Osten ein, wo Nationalismus nicht angetreten war, säkulare Territorialstaaten nach dem Vorbild der französischen Revolution zu bilden, sondern der Islam die Grundlage der Phantasien von einem künftigen Großreich bildete.
Für die sechziger Jahre attestiert allerdings der syrische Schriftsteller Sadik Jalal Al-Azm noch einigen nationalistischen arabischen Politikern wie Jamal Abd El Nasser, mit Zwangsmitteln eine gewisse Säkularisierung durchgesetzt zu haben. Der Nationalismus stellte für ihn ein Instrument zur Modernisierung dar, das, als Waffe zur Neutralisierung alter Feudalklassen eingesetzt, potenziell auch das bürgerliche Freiheitsversprechen in sich trug.
Nach der Niederlage gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg allerdings schlug der antikoloniale Nationalismus um in reine Repression. Der Kampf für die Befreiung aus kolonialer Abhängigkeit war im monolithischen Nationalismus arabischer Einparteiensysteme erstarrt, der sich im Inneren mit den außenpolitischen Krisen legitimierte, die der scharfen Abgrenzung zu Israel und dem uneingelösten Panarabismus entsprangen. "Der Staat (...) zwingt sich in spektakulärer Weise auf, stellt sich zur Schau, bedrängt, mißhandelt den Bürger und zeigt ihm auf diese Weise, dass er in permanenter Gefahr ist. Die Einheitspartei ist die moderne Form der bürgerlichen Diktatur ohne Maske, ohne Schminke, skrupellos und zynisch." (15)
Die einst fortschrittlichen und linken Elemente aus Antiimperialismus und Nationalismus, die sich aus dem Gedanken der Aufklärung speisten, begannen sich Ende der sechziger Jahre im Nahen Osten zu Unterdrückungsmitteln zu transformieren. Ein Prozess, dem auch die arabische Linke hilflos gegenüberstand, wenn sie ihn nicht - in der Hoffnung auf eine aus der nationalistischen Modernisierung resultierende soziale Befreiung - sogar unterstützte. Eine "stillschweigende Aufgabe von Rationalität und objektivierbarer Analyse, die selbst auferlegte Zensur, die unreflektierte Übernahme obskurantistischer Deutungsmuster gerade bei denen, die sich als Speerspitze der Säkularisierung verstanden (...), bei den Linken und Marxisten" setzte ein. "Die Versatzstücke der ehemals säkularen Deutungsmuster waren alle noch vorhanden: Imperialismus, Antiimperialismus, Dritte Welt, Volkskrieg, Revolution, Sozialismus. (Die) Deutung des Islam als progressive und antiwestliche Form politischer Selbstverwirklichung ist eine schleichende Tendenz bei linken Intellektuellen und liquidiert ein entscheidendes Element im arabischen Nationalismus - den Laizismus." (16) In dem Bild des Ba'athisten Saddam Hussein auf einem Gebetsteppich verdeutlicht sich 1991 für Magdi die gescheiterte Auflösung der im arabischen Nationalismus angelegten Widersprüche.

Agenten und andere Zionisten

Die Zeit begann, in der an den Verlautbarungen der Akteure nur schwer noch feststellbar war, ob sie Muslimbrüder oder ehemalige Kommunisten, Nationalisten oder Ba'athisten, Regierung oder Opposition waren. Alle erklärten sich - so verfeindet sie auch untereinander waren - die herrschende Krise mittels Verschwörungstheorien, wobei "abwechselnd verschiedenen Gruppen und Personen (...) die Rolle des Agenten zugeschrieben wird - den Christen, den Juden, den Assyrern, den Maroniten, den Kurden, den Berbern. (...) Diese Wahrnehmung eines ständigen Kriegszustandes mit der Außenwelt geht einher mit politischen Idealen und Kampfbegriffen, die sich auf einer solch hohen Abstraktionsebene bewegen, dass sie weder mit dem Alltag noch mit den lokalen Gegebenheiten in Verbindung stehen und somit das fest gefügte Weltbild nicht gefährden: Arabische Einheit, Kampf gegen den Imperialismus, Zerschlagung des zionistischen Gebildes, Heiliger Krieg. (...) Die Kluft zwischen den unerreichbaren Zielen und der unzugänglichen Wirklichkeit schließt die berauschende Rhetorik: Die Sprache ist Selbstzweck, nicht Trägerin von Inhalten und Gedanken. Hier treffen sich die Unterdrückten und die Unterdrücker." (17)
Eine Beobachtung, die spätestens während des Ersten Golf-Krieges (1980 bis 1988) hätte Allgemeingut werden müssen, als zwei Regime, die angeblich konträre Weltanschauungen und Regierungssysteme verkörperten, sich jahrelang gegenseitig vorwarfen, im Auftrag derselben fremden Mächte zu handeln. So konnte beispielsweise auf einer der UN-Vollversammlungen der irakische Botschafter erklären, dass der "Iran, der von Israel Waffen beziehe, nicht weniger expansionistisch und aggressiv (sei) als Israel", worauf sein iranischer Kollege konterte, dass der Irak ein "rassistisches zionistisches Regime" sei und deshalb "die unterdrückten Völker ihre Anstrengungen verstärken (müssten), um sich aus den Klauen des Imperialismus und Zionismus zu befreien". (18)
Der dieserart verstandene bekannte Dreisprung aus Antiimperialismus/Antizionismus/Antirassismus, ging - ohne jeden Bezug auf konkrete Herrschaftsverhältnisse - ein in das rhetorische Repertoire aller nahöstlichen Akteure und konnte zu jeder passenden Gelegenheit wiederholt werden: vom türkischen Generalstab über die islamistischen und nationalen Bewegungen bis hin zur kommunistischen Opposition. Sie alle verstehen sich als Antiimperialisten, sie alle nehmen ihre jeweiligen Gegner als Agenten fremder Mächte wahr - eine Gemeinsamkeit, die es vermochte, das saudische Königshaus mit dem nominal-sozialistischen Südjemen oder dem Iran zu verbinden, die ihre autokratische Herrschaft nach innen mit der Abwehr zersetzender Einflüsse von außen legitimierten.
Fuad Zakariyah, einer der radikalsten Kritiker der Islamisten in Ägypten, wies bereits 1989 darauf hin, dass es völlig vergebens sei, dieser Sorte pathischem Antiimperialismus "klar machen zu wollen, dass sich das Interesse des Westens an der islamischen Welt auf die Begierde beschränkt, den eigenen Zugriff auf unseren unermeßlichen Reichtum an Bodenschätzen zu sichern und die eigenen strategischen Interessen zu wahren" (19), und es nicht um einen kulturell determinierten Angriff auf das wie auch immer geartete Wesen der "Araber" bzw. des "Islam" gehe.
Lange bevor in Europa und den USA der Zweite Golf-Krieg die Frage aufwarf, wer eigentlich als handelndes Subjekt zu unterstützen sei, hatte vor Ort sich ein Prozess vollzogen, der alle der Aufklärung entlehnten Begriffe so entleert und verdreht hatte, dass nationale Befreiung in unmittelbare Herrschaft umgeschlagen war und sich zugleich abgeschottet hatte gegen jede Kritik, die auf genau dieser Aufklärung basierte.

Das Syndikat Ba'ath-Partei

Dies hebt die reale Existenz imperialistischer Ausbeutungsstrukturen und ihre Verantwortung für die Entwicklung der Region nicht auf. Das Ineinandergreifen von nationalistischer Modernisierung, ökonomischer Umstrukturierung und dem Umkippen der nationalen Befreiung in Unterdrückung lässt sich an kaum einem Beispiel so gut nachvollziehen wie dem des Irak, ohne dabei in Erklärungsmuster zu verfallen, die im Sinne erfundener gemeinsamer Geschichte alle politischen Strukturen des Nahen Osten aus den Folgen des Kolonialismus herleiten.
Mitte der fünfziger Jahre hatte sich im Irak in Folge der wachsenden Bedeutung des Erdölmarktes der klassische Widerspruch zwischen einer veralteten feudalen Besitzstruktur und den sich herausbildenden Klassenstrukturen zu einem handfesten Konflikt zugespitzt. Die feudalen Herrschaftsstrukturen hatten sich einerseits als Grundlage der gesellschaftlichen Verteilung von Reichtum durchgesetzt, sie standen andererseits den Modernisierungsplänen der neu entstandenen Mittelschicht genauso wie den Forderungen des städtischen Proletariats entgegen. (20)
Als Konterprojekt zu den revolutionären und panarabischen Bewegungen des Landes vollzog der Putsch der "freien Offiziere" 1958 in Form einer Revolution von oben den überfälligen Sturz der mit Großbritannien verbundenen Monarchie und installierte eine nationale Staatsklasse, ohne zugleich eine Veränderung der Besitzverhältnisse anzustreben. Die nationale Elite rekrutierte sich weiter aus der Militärbürokratie und aus einer dem Feudalbesitz entsprungenen Bourgeoisie, die nicht in der Lage war, den Widerspruch zwischen dem seit der Vereinheitlichung der weltweiten Erdölarrangements extrem angestiegenen Reichtum des Landes und der gesellschaftlichen Unterentwicklung aufzulösen.
In wohl kaum einem Land des Nahen Ostens erlebten panarabische und kommunistische Bewegungen einen derartigen Aufschwung wie im Irak der Zeit zwischen 1958 und 1968. Mit der Machtergreifung der Ba'athisten unter al-Bakr kam 1968 eine Koalition an die Regierung, die sich erstmals vorwiegend aus den Unter- und Mittelschichten des Landes zusammensetzte und der seit 1970 auch die Kommunistische Partei angehörte. Die programmatisch als "nationale Einheitsregierung" firmierende Koalition führte die 1958 begonnene nationale Befreiung fort. 1972 wurde die multinationale Erdölindustrie verstaatlicht, eine umfassende Landreform wurde in Angriff genommen, um alte Feudaleliten zu neutralisieren, der Ausbau des Staatsapparates versorgte die Mittelschicht mit Arbeitsplätzen und Kontrollfunktionen. (21)
Der Umschwung in Repression setzte gleichzeitig mit der weltweiten Ölpreiserhöhung ein, die dem irakischen Staat eine enorme Steigerung der Ölrente bescherte. (22) Die Verteilung des aus den Renten geschöpften Reichtums lag in der Hand der ba'athistischen Staatselite, die nun daran ging, die kommunistische und nationalistische Konkurrenz auszuschalten. Der Zerfall der Klassenstrukturen in Folge des Rentensystems kam der Bakr-Regierung dabei entgegen. Finanziert von französischen und US-amerikanischen Ölrenten entwickelte sich ein repressives Wohlfahrtssystem, innerhalb dessen Loyalität und Mitgliedschaft in den Parteiorganisationen der Ba'athisten über den Zugang zu den Verteilungszyklen entschieden. Bis 1975 gelang es der Bakr-Führung, die kommunistischen Massenorganisationen weitestgehend aufzulösen oder zu übernehmen, ohne dass sich größerer Widerstand regte.
Als die Ba'athisten dann daran gingen, die Kommunistische Partei selbst zu liquidieren, hatte diese nicht nur ihre Klassenbasis längst verloren. Der sozialstaatliche Kurs der Regierung, die sich noch zu Beginn eine entwicklungspolitische Legitimation durch Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen verschaffen musste, war bereits während der Beteiligung der KP an der Regierung in eine offene Repression gegen alle Bevölkerungsteile umgekippt, die sich der nationalen Verwertungslogik der ba'athistischen Staatselite widersetzten.
Diese Tendenz wurde von Al-Bakrs Nachfolger fortgesetzt. Nicht zufällig war dieser Mann ehemaliger Geheimdienstchef und Organisator der ba'athistischen Terrortruppen in der Zeit vor 1968. Die jetzt herrschende Koalition aus der neu entstandenen nationalen Bourgeoisie und dem Auslandskapital, das den Staatshaushalt finanzierte und zu dessen Gunsten das Bündnis mit den Unter- und Mittelschichten fallen gelassen wurde, setzte Saddam Hussein mit brutaler Gewalt und einer alles durchdringenden Kontrolle gegen jeden gesellschaftlichen Widerstand durch.
Unter ba'athistischer Herrschaft wurde jeder emanzipatorische Ansatz, der in der antikolonialen nationalen Befreiung im Kern enthalten ist, systematisch liquidiert. Zurück blieben jene irakischen Massen, die auf Gedeih und Verderb dem Regime und seinen Verteilungsstrukturen ausgeliefert sind und zu reinen Akklamationszwecken immer dann "wie eine Schafherde zusammengetrieben" werden, wenn sich "das Syndikat für individuelle Interessen" (23) verspekuliert hat. Seit Ende der siebziger Jahre ist dies regelmäßig der Fall.
Seit dem Machtantritt Saddam Husseins befindet sich der Irak in einer dauerhaften wirtschaftlichen wie politischen Krise. Bereits im August 1990 wurde die Situation in den Bagdader Straßen beschrieben, wie dies heute in der Regel Sanktionsgegner tun: "Der Alltag ist von Versorgungsengpässen gekennzeichnet, von häufigen Klagen über die schlecht funktionierenden Dienstleistungsbetriebe. Sei es die Wasser-, Gas-, Öl- oder Elektrizitätsversorgung, oder seien es Produkte des täglichen Bedarfs, ständig sind die Bürger damit beschäftigt, diesen oder jenen rar gewordenen Artikel sowie wichtige Lebensmittel zu besorgen." (24)

Krieg, Zerstörung, Caritas

Dem Golf-Krieg folgten Reaktionen und Handlungen, deren Form übernommen wurde aus anderen Konflikten, deren emanzipativer Inhalt verschwand. Das Ende der Kampfhandlungen und die folgende kurdische Massenflucht setzten weltweit eine rege humanitäre Aktivität in Gang. Überall gründeten sich partei-übergreifende Solidaritätskomitees und -organisationen. In Zeitungen wurde zur "Solidarität mit der leidenden irakischen Zivilbevölkerung - den wahren Opfern des Krieges" - aufgefordert.
Interessanterweise veröffentlichten nicht nur das Rote Kreuz und andere Hilfsagenturen diese Aufrufe, sondern auch neu geschaffene Komitees, in denen sich die alten Bekannten aus der Nicaragua-, Angola- und Kuba-Solidarität einfanden. Für dieses Klientel stellte die Zivilbevölkerung bislang zwar den Bezugspunkt politischer Veränderung dar, nicht aber den Akteur, der diese Veränderung hätte herbeiführen können.
Das Fehlen eines Subjekts, das "the good" im Golf-Krieg hätte sein können, führte quasi notwendigerweise dazu, alte Formen der so genannten Solidaritätsarbeit mit herkömmlichen Inhalten karitativer Nothilfe zu füllen. Im Irak stellte sich nur besonders deutlich dar, was ein weltweites Problem geworden ist: das Fehlen politischer Parteien oder Organisationen, deren Programmatik auf Befreiung zielt und nicht auf reine Ablösung von Herrschaft unter Wahrung bestehender Macht- und Ausbeutungsverhältnisse. Das völlige Fehlen solcher Akteure führte dazu, dass gestandene InternationalistInnen die politische Analyse der Lage vor Ort ebenso wie die Reflexion aufs eigene Tun durch Beschaffung und Verteilung von Milchpulver und Medikamenten ersetzten.
In Irakisch-Kurdistan sollte dieses Phänomen noch deutlicher zu Tage treten als im Zentralirak, wo die Ba'ath-Verwaltung bald jede Freizügigkeit unterband. Einerseits wurde mit jedem Helfer ein potentieller Zeuge der eigenen Herrschaftspraktik ins Land gelassen, andererseits interessierte materielle Hilfe das Regime nur sehr bedingt. Bald also waren Einreisevisa nur noch für erklärte ausländische "Freunde" des irakischen Volkes, also für Apologeten des Hussein-Regimes zu haben. Der Kontakt zwischen Solidaritätskomitees und "Opfern" brach Anfang 1992 ab, die Irakhilfsgruppen zerfielen oder wurden von rechten Strukturen wie dem Deutsch-arabischen Friedenswerk vereinnahmt. Denn dieses hatte, ebenso wie zuvor dutsche Nazis um Michael Kühnens, ein klares Objekt seiner Solidarität in Saddam Hussein und seinem "kämpfenden Volk" gefunden; beide können sich seit langem mit dem Herrschaftsanspruch und der Ausprägung des nahöstlichen Antiimperialismus identifizieren.

Humanitäre Interventionen

Im kurdischen Nordirak stellte sich die Fortführung von linker Solidarität als humanitärer Hilfsmaßnahme komplizierter und vielschichtiger dar. (25) Die sich anbahnende Intervention, die später kritisiert wurde als "Umdefinition eines politischen in ein humanitäres Problem" (26), war nicht nur in den außenpolitischen Spielräumen nach dem Ende des Blockkonfliktes und gewissen Interessen der Fluchtabwehr begründet, sondern fiel international auch auf den entsprechenden ideologischen Nährboden - sodass Organisationen wie medico Hand in Hand mit der US-amerikanischen Regierung am Wiederaufbau Kurdistans arbeiten konnten und sich trotzdem in der Tradition der Solidaritätsbewegung verstanden.
Die Kurden selbst, die zum Gegenstand dieser verzweifelten Solidarität wurden, waren im klassischen Sinne nicht einmal Contras. Sie waren keine Handelnden, sondern vielmehr Getriebene, die nur dank der Anti-Irak-Koalition in das Gebiet zurückkehrten, aus dem der Hussein-Staat sie vorher verjagt hatte. Alle ihre Versuche, in den folgenden Jahren als Handelnde aufzutreten, ob dies Parlamentswahlen oder der Aufbau unabhängiger Wirtschaftsstrukturen waren, wurden von derselben westlichen Hilfe systematisch unterminiert, die ihnen 1991 zur Seite stand, um sie seitdem im Stand des Bittstellers zu halten.
Neben der humanitären Hilfe begannen plötzlich Organisationen wie die UN zum Maßstab von Politik zu werden. Sowohl die Sanktionsgegner als auch die Kurdistan-Solidaritätsgruppen bewegten sich dabei ganz im institutionellen Rahmen. Die einen sprachen von völkerrechtswidrigen Sanktionen gegen den Irak und forderten im Duktus künftiger Außenminister eine Stärkung der UN gegen ihre einflussreichen Mitgliedstaaten, die anderen plädierten für eine traditionelle Anerkennung der Kurden. "Der kurdische Befreiungskampf der 90er Jahre ist ein Kampf um die internationale Anerkennung. Die Situation in Kurdistan wurde in den vergangenen Jahren auf die internationale Tagesordnung gebracht - bei der UN, bei der KSZE und beim Europäischen Parlament. Genau hier muß internationale Solidarität ansetzen." (27)
Waren in der klassischen Solidaritätsbewegung solche Forderungen Mittel zum Zweck, so gerieten sie jetzt zum Selbstzweck. Die UN oder KSZE wurden nicht mehr selbst als Ausdruck eines falschen Systems rezipiert, sondern als falsch geführte Organisationen. Dies korrespondiert mit der Übernahme nationalistischer Argumentationsmuster, die nicht mehr als notwendige Übergangsphänomene verteidigt, sondern als Selbstzweck affirmiert wurden.
Diese inhaltliche Nähe droht sich gegen die Objekte der Solidarität zu wenden, wenn etwa der ehemals linke Slogan "Fluchtursachen bekämpfen" von den zuvor erwähnten Institutionen gegen die Flucht von Kurden gerichtet wird. Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, die zuvor in den arabischen Staaten verfolgt werden konnte: Ihres befreienden Inhalts entleert, werden die verbliebenen Worthülsen gegen die häufig letzte Perspektive auf individuelles Glück und Freiheit gewandt. Im Falle des kurdischen Nordirak tut dies die EU, die zur Abwehr von Flüchtlingen den Nordirak als inländische Fluchtalternative für Kurden entdeckte.

Stabilität des Verfalls

"Der Golf-Krieg", resümierte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung zehn Jahre später, "weckt schlafende Ängste, er war ein Schock, zumal die Politik die Phantasie vom ewigen Frieden lange gut genährt hatte." (28) Die Vorstellungen von einer bevorstehenden Apokalypse rationalisierten weltweit einmal mehr die latente Untergangsangst eines Bürgertums, dessen Herrschaft den Umschlag in Barbarei längst hinter sich hatte. In der Rückkoppelung des Krieges auf einen globalen zwischen Reich und Arm, Nord und Süd spiegelte sich zugleich der Wunsch und die Angst, Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen, die in der Regel unsichtbar bleiben, würden sich in diesem Ausnahmefall in Form unmittelbarer Gewalt zugleich zeigen und entladen: "Die Tradition der Unterdrückten belehrt (aber) darüber, daß der ðAusnahmezustandÐ, in dem wir leben, die Regel ist." (29) Ein Ausnahmezustand, der für Walter Benjamin nur revolutionär aufzuheben wäre. Befreiung aber sah er gebunden an eine zeitliche Perspektive: "Denn mag die Bourgeoisie im Kampfe siegen oder unterliegen, sie bleibt zum Untergange durch die inneren Widersprüche, die ihr im Laufe der Entwicklung tödlich werden, verurteilt. Die Frage ist nur, ob sie an sich selber oder durch das Proletariat zugrunde geht. Bestand oder das Ende einer dreitausendjährigen Kulturentwicklung werden durch die Antwort darauf entschieden. (...) Und ist die Abschaffung der Bourgeoisie nicht bis zu einem fast berechenbaren Augenblick der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung vollzogen (Inflation und Gaskrieg signalisieren ihn), so ist alles verloren." (30)
Erst vor dem Hintergrund, dass "alles verloren ist", kommen jene Analysen von 1991 zu ihrem Recht, die gegen die gleichzeitig reanimierte Ideologie eines Positivismus vom "Ende der Historie" (Francis Fukuyama) Krieg, Verfall und Zerstörung stark machten. In ihnen nämlich reflektierte sich noch die Erkenntnis Benjamins, dass es für Befreiung einmal zu spät sein werde. Von nichts anderem zeugen die Akteure des Golf-Krieges ebenso wie ihre Kritiker. Wenn seit zehn Jahren sich nur einmal mehr die "Stabilität des Verfalls" manifestiert, kann es daher Solidarität, die einst angetreten war, "im Angesicht der greifbaren Möglichkeiten ... die Rede von der Brüderlichkeit (zu) verwirklichen" (31), nicht mehr geben. Die Erkenntnis, dass Befreiung weiter denkbar, in Taten aber unumsetzbar geworden ist, bleibt als prägendes Erlebnis jener bestehen, die 1991 Solidarität nicht mit der Unterstützung bestehender Machtverhältnisse verwechseln wollten.
In der kurz danach aufkommenden Affirmation der "globalen Zivilgesellschaft" spiegelte sich dieses Erlebnis noch wider: Plötzlich ging es Nord-Süd-Gruppen nur noch darum, innerhalb herrschender Verhältnisse zu agieren, bestenfalls sie durch andere Herrschaft zu ersetzen. Diese Haltung, die zur Verhärtung der Verhältnisse - und damit der Stabilisierung der Katastrophe - beitrug, enthielt, trotz der apologetischen Terminologie, einen richtigen Kern. Denn wenn es nur noch um Analyse verschieden intensiver Macht- und Ausbeutungsstrukturen geht, bleibt als einzige Option, sich innnerhalb dieser zu positionieren. So sah "Solidarität" sich in Folge des Golf-Krieges gezwungen, die kurdische Autonomie gegen einen möglichen Wiedereinmarsch irakischer Truppen zu verteidigen, wissend, dass es den kurdischen Eliten und ihren westlichen Unterstützern alleine um Herrschaftsicherung ging, ja sie sogar von Anfang an nicht einmal theoretisch strukturelle Veränderung versprachen.
Die Rede von der Stärkung zivilgesellschaftlicher Struktur, die selbst Herrschaft sichert, zeigte zugleich das Unbehagen an, Menschen als handelnde Subjekte, die sie im Sinne Benjamins nicht mehr sein konnten, ihrem Schicksal in der Katastrophe zu überlassen. Denn auch im Verfall heißt es weiterzuleben. Innerhalb dieses Systems spielt es für den Einzelnen aber sehr wohl eine Rolle, in welchem Ausmaß ihm medizinische Versorgung, Nahrung und Bürgerrechte vorenthalten werden.


(Erschienen in jungle world Nr. 5/ 2001 v. 24. 01. 2001)


Anmerkungen

(1) Walter Benjamin: Einbahnstraße, Frankfurt/M. 1928, zit.n. 3.Auflage 1955. S.25
(2) Zit.n. Robert de Niro in John Frankenheimers Film "Ronin"
(3) Joachim Hirsch: Vom Imperialismus zum Postimperialismus, in: Diskus, Nr.1/1991, S.6ff
(4) Noam Chomsky in Christina Koch (Hg.): Schöne Neue Weltordnung, Zürich 1992. S. 217
(5) Joachim Hirsch, a.a.O.
(6) ebd.
(7) Detlev Claussen: Mißglückte Befreiung, in: Diskus, Nr.1/1991
(8) Institut für Erziehung und internationale Entwicklung: Zivilisationskrieg, Frankfurt/M. 1991. S.3
(9) junge Welt v. 5.8.2000
(10) taz v. 5.12.2000
(11) taz v. 8.1.2001
(12) Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1981, S.147
(13) Bahman Nirumand: Der Kriegstreiber von Bagdad, in: ders. (Hg.): Sturm im Golf; Die Irak-Krise und das Pulverfass Nahost, Reinbeck 1990. S. 25
(14) Cherifa Maghdi: Sisyphos. Die arabischen Intellektuellen und die gesellschaftliche Krise, in: Michael Lüders (Hg.): Der Islam im Aufbruch?; Perspektiven der arabischen Welt. München 1992. S. 165 f
(15) Frantz Fanon, a.a.O. S.141
(16) Cherifa Maghdi: Sisyphos, a.a.O. S.167f
(17) Ebd. S. 170
(18) Zit. n. Henryk M. Broder: Der ewige Antisemit, Frankfurt/M. 1986, S.224ff.
(19) Fuad Zakariya: Säkularisierung - eine historische Notwendigkeit, in: Islam im Aufbruch?, a.a.O. S.235
(20) Vgl. Marion Farouk-Sluglett und Peter Sluglett: Der Irak seit 1958; Von der Revolution zur Diktatur, Frankfurt/M. 1991. S.47 ff
(21) Vgl. Peter Pawelka: Ökonomie und Herrschaft im Vorderen Orient: Die politische Problematik des Rentier-Staates, in: Gert Krell/Bernd W. Kubbig: Krieg und Frieden am Golf, Frankfurt/M. 1991, S.34f
(22) Von 575 Millionen US-Dollar 1972 stiegen die jährlichen Einnahmen auf sechs Milliarden Dollar 1974.
(23) Frantz Fanon, a.a.O.
(24) Shaker Alhamdani: Innenansichten aus dem Irak, in: Pulverfass Nah Ost, a.a.O., S.176
(25) Dieser Bereich ist vergleichsweise gut dokumentiert. Vgl. etwa: R. Ofteringer und R. Bäcker: Republik der Staatenlosen. 3 Jahre humanitäre Intervention in Kurdistan-Irak, in: links 7/8 1995
(26) Thomas von der Osten-Sacken / Thomas Uwer: Republik des Schreckens - Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes zum Irak und die Realität, Pro Asyl (Hg.), Frankfurt/M. 1999, S.56
(27) K. Hayden / H. Klein: Hilflose Helfer, in iz3w 5/95
(28) SZ v. 17.1.2001
(29) Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen, in ders.: Illuminationen, Frankfurt/M. 1961, S.272
(30) Walter Benjamin: Einbahnstraße, Frankfurt/M. 1928, zit.n. 3.Auflage 1955, S.76f
(31) Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt/M. 1993, S.58


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