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Durchs brave Kurdistan

Während der Rest des Landes im Terror versinkt, boomt der kurdische Nordirak. Doch solange alle von der Ölrente leben, bleibt eine Demokratisierung schwierig.

von Thomas von der Osten-Sacken aus Suleymaniah

Besucher, die das erste Mal in den Nordirak kommen, sind in der Regel verwirrt, wie groß die Gegensätze zwischen dieser überwiegend kurdischen Region und dem angrenzenden Zentralirak sind. Während in Mossul Kopfgelder für getötete »Juden, Amerikaner und Kurden« gezahlt werden, die Stadt gepflastert ist mit Plakaten, die unverschleierte Frauen mit dem Tod bedrohen, und unzählige Christen aus Angst vor islamistischen Banden aus der Stadt geflohen sind, scheint Arbil, die Hauptstadt Irakisch-Kurdistans nicht bloß 40 Kilometer entfernt zu sein, sondern zu einem anderen Land zu gehören. Wer sich in Mossul stolz Widerstandskämpfer nennen kann, wird in Arbil als Terrorist festgenommen und in eines der mit Islamisten übervölkerten Gefängnisse verfrachtet.

Ist es in Mossul oder Bagdad lebensgefährlich, nach Einbruch der Dämmerung auf die Straße zu gehen, so steht man in Arbil, Suleymaniah und Dohuk abends regelmäßig im Stau oder quält sich durch überfüllte Einkaufszentren. Nicht Explosionen oder Kugeln, sondern Autounfälle dürften hier die Todesstatistik anführen. Alleine in Arbil sind seit dem Ende des Embargos im vergangenen Jahr 70 000 neue Autos zugelassen worden.

Selbst oberflächlichen Betrachtern dürfte in kürzester Zeit klar werden, warum arabische Nationalisten und Islamisten die Kurden als Verräter brandmarken. Die Wiederwahl von George W. Bush wurde im Norden des Irak mit Freude und Erleichterung begrüßt, ein Reporter des in Bagdad ansässigen Institutes for War and Peace Reporting suchte in Suleymaniah vergeblich nach Anhängern von John Kerry. Auch Arafat weinten die Kurden keine Träne nach, im Gegenteil, man erinnerte sich an die unzähligen Brüderküsse, die der Palästinenserführer mit Saddam Hussein ausgetauscht hatte.

Fast täglich werden Anhänger islamistischer Gruppen von den kurdischen Sicherheitskräften verhaftet, ungezählt sind die versuchten Autobomben- oder Suizidanschläge. Erst im September konnte ein Anschlag auf das größte Hotel in Suleymaniah in letzter Minute verhindert werden. Es sei, hört man immer wieder, vor allem der effektiven Aufklärung des »Asayisch«, des kurdischen Geheimdienstes, zu verdanken, dass es den Terroristen bislang erst einmal gelang, ein größeres Massaker anzurichten.

Umso häufiger werden Kurden in anderen Teilen des Landes ermordet. In Tikrit, der Geburtsstadt Saddams, fand man erst vor wenigen Tagen die verstümmelten Leichen dreier kurdischer Händler aus Arbil. Dies sei eine Vergeltung an den Kollaborateuren und Ungläubigen, hieß es in einer Erklärung, die an den Körpern angebracht war. Der Terror treibt immer mehr Kurden dazu, aus zentralirakischen Städten in den Norden des Landes zu fliehen.

Es ist nicht nur die Haltung der irakisch-kurdischen Politiker, sondern auch ein sich in größeren Städten ausbreitender Lebenswandel, der den kurdischen Nordirak vom Rest des Landes unterscheidet. Demonstrativ hielten sich dieses Jahr viele Einwohner der Stadt Suleymaniah nicht an die Fastenregeln im Ramadan. Alkoholläden blieben geöffnet, auf der Straße wurde geraucht, die Kaffeehäuser waren auch tagsüber gefüllt. Immer lauter beschweren sich die Geistlichen über eine sich ausbreitende laxe Moral in der Stadt und den schwindenden Respekt, der ihnen entgegengebracht werde.

Deutlich zeigt die neue Haltung sich auch in der diesjährigen Fernsehserie, die der kurdische Sender allabendlich während des Ramadans ausstrahlte. Wie die beliebten ägyptischen Serien handelt »Wasta Jumha« von Liebe und Herzschmerz. Viele Tränen werden vergossen, und Liebende finden nicht zueinander, weil böse Widersacher Intrigen gegen sie spinnen. Bemerkenswert allerdings ist die Rollenverteilung: Die Guten trinken Whisky, sind westlich gekleidet und hören Popmusik, die Bösen dagegen tragen islamische Kluft und zitieren ständig Koransuren.

Auch in dem an der iranischen Grenze gelegenen Biara, das drei Jahre lang als Zentrale der islamistischen Ansar al-Islam fungiert und Musab al-Zarqawi beherbergt hat, klagt der örtliche Imam darüber, dass die Menschen der Moschee fernblieben. Enthauptungen, Suizidattacken und die täglich über arabische Satellitenkanäle ausgestrahlten Bilder des »Widerstands« tun ein Übriges, um dem Ruf des Islam zu schaden.

Und in der Tat: Freitags sind die Moscheen weniger gefüllt als die neu eröffneten Fastfoodrestaurants wie der kurdische Hamburgerladen Ma Donal oder die unzähligen Internetcafés. Besonders Jugendliche pflegen ihre freien Tage in Chatgroups zu verbringen, auch Sexseiten sind äußerst gefragt. Lilo Wanders hat inzwischen Franz Beckenbauer den Rang des beliebtesten Deutschen abgelaufen.

Zwar ist auch in Suleymaniah die Moral noch immer rigide, im Vergleich zu anderen Regionen des Nordirak wird es dennoch ironisch als das »San Francisco Kurdistans« bezeichnet. Unverheiratete Pärchen können sich ohne Begleitung im neu errichteten Azadi Park treffen und Hand in Hand spazieren gehen, viele Restaurants haben die Geschlechtertrennung aufgehoben, die ansonsten im Nahen Osten üblich ist. Das Restaurant »Europa« rühmt sich sogar wegen seiner weiblichen Bedienung, und kürzlich hat ein erster nur von Frauen geführter Supermarkt eröffnet.

Westliche Mode »made in Turkey« verbreitet sich, die ersten Männer lassen die Haare wachsen, und viele Frauen verzichteten auch im Ramadan darauf, ein Kopftuch zu tragen. Inzwischen regeln sogar einige Polizistinnen das Verkehrschaos auf den Hauptstraßen.

Der Wandel allerdings geht nicht einher mit großen politischen Forderungen, von einer Studenten- oder Jugendbewegung ist nichts zu spüren. Eine einzige studentische Demonstration fand in den vergangenen zwei Monaten statt, sie richtete sich gegen die schlechte Wasserversorgung in einem neu errichteten Studentenwohnheim.

Und diese Veränderungen beschränken sich weitgehend auf die Städte, auf den Dörfern herrschen Tradition und Konservatismus. In der südwestlich von Suleymaniah gelegenen Region Germian etwa sind einer Studie zufolge 60 Prozent der Frauen Opfer jener meist aus Afrika bekannten Klitorisbeschneidungen, und so genannte Ehrenmorde an Frauen sind keine Seltenheit.

Aber überall gilt das »enrichissez-vous«, das seit dem Sturz Saddam Husseins zum Motto vieler Kurden geworden ist. Neue Autos, Mobiltelefone, Satellitenanlagen und türkische Möbel werden zu Tausenden verkauft. Mehr als eine Milliarde Dollar sei, so Salar Rashid, der Menschenrechtsminister in Suleymaniah, seit dem Mai 2003 im Nordirak investiert worden. Da hier Ruhe herrscht, eröffnen türkische Bauunternehmen ebenso wie Import- und Exportfirmen in den kurdischen Städten ihre Dependancen. Die Mieten sind seit dem Mai 2003 um fast 400 Prozent in die Höhe geschnellt, und aus allen Teilen des Landes, selbst aus der Hauptstadt Bagdad, strömen Arbeiter in die kurdischen Gebiete, wo die Löhne viermal so hoch sind wie im Zentral- oder Südirak.

Anders als im Süden des Landes sind die bevorstehenden Wahlen hier kein großes Thema. Einer kürzlich in der Zeitung Hawlati veröffentlichten Umfrage zufolge würden 70 Prozent der Kurden für parteiunabhängige Kandidaten stimmen. Jedoch dürfte diese Zahl einem gewissen Wunschdenken geschuldet sein. Hawlati genießt inzwischen den Ruf einer unparteilichen, den regierenden Parteien gegenüber äußerst kritisch eingestellten Zeitung, währen die meisten anderen Medien sich in Parteibesitz befinden. Wie in allen anderen Segmenten der Gesellschaft dominieren die Parteien noch immer die Medienlandschaft.

Die Demokratische Partei Kudistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (Puk) haben inzwischen bekannt gegeben, nicht nur für die Wahlen der irakischen Nationalversammlung, sondern auch für die des kurdischen Regionalparlaments in einer gemeinsamen Liste zu kandidieren. »Das ist vollkommen absurd und so, als würden in den USA Demokraten und Republikaner gemeinsam antreten«, kommentiert Assi Shaker, ein Student der Universität Suleymaniah, die Entscheidung.

Und so recht glaubt hier niemand an die durchschlagende Wirkung von Wahlen, die nach Ansicht vieler Kurden eh zu früh abgehalten werden. Dabei geht es, glaubt man den Verlautbarungen der irakischen Übergangsregierung und des Weißen Hauses, um nicht weniger als die Schaffung eines neuen demokratischen und föderalen Iraks. Schließlich werden nicht nur die Nationalversammlung und das kurdische Regionalparlament gewählt, sondern auch erstmals die Gouverneure der 18 irakischen Provinzen.

So sehr man aber in den kurdischen Gebieten dankbar ist für den Sturz des verhassten Regimes, so wenig schenkt man vollmundigen Verlautbarungen Glauben. »Im Nahen Osten glaubt man erst an Demokratie, wenn Regierungen auch wieder abgewählt worden sind. Wahlen gab es schon viele. Nur: Meist blieben jene, die sich haben wählen lassen, bis ans Ende ihrer Tage an der Macht«, meint Aram Hauramani, der früher in der Kommunistischen Partei aktiv war. Eine Erfahrung, die man auch im Nordirak machen musste, wo 1992 erstmalig mit großer Euphorie gewählt wurde. Aber dann brach 1994 der interne Parteienkrieg aus, und seitdem ist die kurdische Region de facto gespalten, der Norden wird von der KDP, der Süden von der Puk regiert. Jedes Ministerium existiert doppelt, sowohl in Suleymaniah als auch in Arbil. Zwar versuchen die kurdischen Parteien in Bagdad mit einer Stimme zu sprechen, ob und wie es gelingen soll, die Verwaltungen im Nordirak zusammenzulegen, ist jedoch schleierhaft. Niemand mag daran glauben, dass eine der beiden Parteien bereit ist, Macht und Einfluss abzugeben. Seit Wochen hält sich auch hartnäckig das Gerücht, beide Parteien hätten begonnen, Stimmen zu kaufen. Wer schwört, eine der Parteien zu wählen, soll mit bis zu 70 Dollar belohnt werden.

Die kurdischen Parteien sind weniger programmatisch ausgerichtete Gruppierungen mit klar unterscheidbaren Zielen. Sie vereinen vielmehr unzählige Funktionen in sich: Sie sind größter Arbeitgeber in der Region, unterhalten eigene Milizen und Hilfsorganisationen, sind finanziell an fast allen wirtschaftlichen Aktivitäten in Kurdistan beteiligt und kassieren die Grenzzölle.

Im Kleinen zeigt sich in Kurdistan so jenes Dilemma, vor dem steht, wer den Nahen Osten demokratisieren will. Denn seit dem vergangenen Jahr flossen Millionen an Ölgeldern ebenso wie US-amerikanische Hilfe in den Norden, also blähten die Verwaltungen sich in fast kafkaesk anmutender Weise auf. Allein im Gebiet der Puk, wo weniger als zwei Millionen Menschen leben, arbeiten den Informationen eines Mitarbeiters des Ministeriums für Kooperation zufolge inzwischen 142 000 Menschen im öffentlichen Dienst. Kommt man in eines der Ministerien, teilen sich oft zwei oder drei Angestellte einen Schreibtisch. Statistisch steht so in jeder Familie mindestens ein Mitglied im Sold der Regierung. Wie viele in den unterschiedlichen Organisationen der Parteien tätig sind, ist unbekannt.

So etwas wie ein produktiver Sektor dagegen existiert nicht einmal rudimentär. Gerade mal zwei Zementfabriken kann die Regierung ihr eigen nennen. In den neuen Supermärkten, die sich größter Beliebtheit erfreuen, findet sich schwerlich ein irakisches Produkt. Außer Hamburgersauce und Grillkohle stammen alle Waren aus den umliegenden Ländern, Ostasien oder Europa. Nicht einmal einfachste landwirtschaftliche Güter, die es im kurdischen Nordirak inzwischen wieder im Überfluss gibt, werden verarbeitet. Selbst Tomatenpaste und Sonnenblumenöl werden aus der Türkei importiert.

Die kurdische Regionalregierung kontrolliert weitgehend die Verteilung der eingehenden Ölrente und der Hilfsgelder. Wie in allen anderen nahöstlichen Staaten zählen deshalb Loyalität und gute Beziehungen, will man weiter kommen oder überhaupt eine der begehrten Stellen im öffentlichen Dienst erhalten. Entsprechend schwach bleibt der private Sektor ausgebildet, in dem andere Qualitäten als Loyalität und das richtige Parteibuch zählen.

»Es herrscht eine Konsumlogik«, klagt die Rechtsanwältin Talar Abdullah, »niemand will arbeiten, aber alle wollen möglichst schnell viel Geld verdienen. Deshalb strebt jetzt jeder danach, von der Regierung angestellt zu werden.«

Obwohl sich inzwischen viele Kurden aus dem Ausland in der regionalen Wirtschaft engagieren, stammen die meisten Firmen, die ins Land strömen, um sich lukrative Bauaufträge zu ergattern, aus der Türkei. Überall entstehen neue Wohnsiedlungen, werden Straßen ausgebaut und schießen Supermärkte, Internetcafés und neue Hotels aus dem Boden. Selbst zwei internationale Flughäfen, in Arbil und Suleymaniah, sind inzwischen betriebsbereit. Die Grundfläche Suleymaniahs hat sich in den letzten Jahren nahezu verdoppelt. Und mitten in den alten Bazarvierteln der Städte entstehen geschmacklose, verglaste drei- bis vierstöckige Einkaufszentren, in denen die neueste türkische Mode feilgeboten wird, während alte Häuser reihenweise abgerissen werden.

Aber das meiste Geld fließt sofort wieder ins Ausland zurück; Fabriken, die lokale Produkte weiterverarbeiten, sucht man vergebens. »Ohne Öl wären wir ärmer als Somalia, kein einziges kurdisches Produkt ist auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig«, meint Talar. »Wenn dem Irak eines Tages die Ölquellen versiegen und wir so weitermachen, dann gehen hier alle Lichter aus.«

So geben Hilfsorganisationen zwar Millionen für Demokratisierungskurse aus, und überall finden Seminare statt, die auf die Wahlen vorbereiten sollen, nur täuscht diese Geschäftigkeit nicht über das grundlegende Dilemma hinweg, das Haure Amanj, ein Kurde, der lange in den USA gelebt hat, in einem Gespräch auf den Punkt bringt. In den USA sei Demokratie entstanden, weil die Kolonien Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr bereit gewesen seien, Steuern zu zahlen, ohne über die Verwendung dieser Gelder mitzubestimmen: »No taxation without representation«. Im Nordirak dagegen hingen die Menschen von den Geldern der Regierung und Parteien ab, Steuern zahle niemand, das Geld komme aus den Ölquellen. Folgerichtig betrachte man Parteien nicht als Interessensvertretungen, sondern als Geldverteilungsmaschinen. Zudem sei deren Regierungsstil undurchsichtig und undemokratisch, niemand wisse, wie und unter welchen Bedingungen man etwa zum Minister werde.

Trotz aller Skepsis gegenüber den Wahlen ist das Klima weit liberaler geworden. Häufiger und offener hört man Kritik an den kurdischen Parteien. Da aber zugleich die politische Entwicklung im Zentral- und Südirak viele Kurden mit Sorge erfüllt, können die kurdischen Parteien mit breiter Unterstützung bei den Wahlen für die irakische Nationalversammlung rechnen. Zu groß ist die Sorge, in Zukunft von einer schiitisch-religiösen Mehrheit dominiert zu werden.

Diese Befürchtungen allerdings bestimmen den Alltag kaum, zu fern sind inzwischen Bagdad und all die dort herrschende Unsicherheit. Kaum ein Kurde überquert, wenn er nicht unbedingt muss, die ehemalige Demarkationslinie. Eine Art »Jerusalem-Syndrom« macht sich in Städten wie Suleymaniah breit: Auch wenn die Gefahr terroristischer Anschläge enorm ist und die unsicheren Gebiete oft nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt sind, tut man so, als befände man sich auf einer sicheren Insel. Solange eine Zentralregierung sich nicht offen in kurdische Angelegenheiten mischt, die verhassten Islamisten bekämpft und sich zumindest nominell für einen föderalen Status Irakisch-Kurdistans ausspricht, ist es vielen Kurden völlig gleichgültig, ob diese Regierung gewählt oder ernannt ist, meint Assi Shaker: »Nach 50 Jahren Krieg, Unterdrückung, Angst und Unsicherheit wollen die meisten Menschen hier einfach ihr Leben genießen und dabei möglichst gut verdienen.«

 

erschienen in Jungle World No 53, 22. Dezember 2004


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