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Bildung für alle - Überall?

Befreites Volk zwischen Motivation und Zerstörung: der kurdische Irak

von Martina Helmke

"In den Dörfern ist das größte Problem die Unwissenheit der Bevölkerung. Die Menschen dort müssen sich von ihren falschen Vorurteilen befreien!", das sagt zumindest Trifa Ali.
Und es scheint wie ein Hilferuf, denn tatsächlich herrscht in weiten Teilen des Iraks erheblicher Bildungsnotstand. Zwar werden vier Fünftel aller Kinder eingeschult, jedoch können die Eltern sich einen regelmäßigen Schulbesuch meist nicht leisten.
Schon jetzt liegt die Analphabetenrate im Irak bei 34% der Männer und 45% der Frauen.
In den letzten Jahren hatte sich die Lage nochmals dramatisch verschlechtert. Zerstörte Schulen und die Unsicherheiten des Krieges machten Bildung zum Teil unmöglich.

Dass die Einschulungsrate besonders im Norden des Landes mit den Jahren immer mehr abnahm, hat viele Gründe.
Der Nordirak ist ein von Kriegen und Zerstörungen erschüttertes Gebiet. Es leben dort hauptsächlich Kurden und in geringerer Zahl auch Assyrer und Turkmenen.
Die amerikanische Intervention ist, wenn man die jüngste Geschichte des Nordirak betrachtet, "bloß" ein weiteres Glied in der Kette der vielen Kriege. Kriege, die einem Großteil der Jugendlichen die Möglichkeit der Bildung verwehrten.

Obwohl im Krieg 2003 erneut viele Schulen zerstört, Kinder auf ihrem Schulweg von Saddams Truppen bombardiert wurden und somit Zuhause bleiben mussten, sind viele Kurden den Amerikanern dennoch dankbar. Denn nun müssen sie nicht mehr unter dem Diktat des Hussein-Regimes leiden.
Schon seit vielen Jahren streben die Kurden nach Unabhängigkeit. Diesen Kampf nennen sie "Intifada". Saddam Hussein hatte sie daher schon vor langer Zeit zu Verrätern denunziert.
Indem er systematisch Giftgas-Anschläge auf die Zivilbevölkerung der nordirakischen Kurden verübte und der Landbevölkerung seine Armee auf den Hals schickte, wollte er die Bevölkerung zermürben. Sie sollten wehr-unfähig werden, weswegen man es besonders auf die Männer abgesehen hatte.
Diese Kampagne (1987/88) wird "Anfalkampagne" genannt. (Anfal ist benannt nach einer Sura des Koran.)1988 siedelte Hussein dann zwangsweise Araber ins Kurdengebiet und Arabisch, für die einheimische Bevölkerung die Sprache des Unterdrückers, wurde zur Unterrichtssprache erklärt. Schulbücher kamen aus Bagdad; alle mit dem Bild Saddamn Husseins auf der ersten Seite.
Doch die Kinder sprachen größtenteils nur kurdisch oder turkmenisch. Der Unterricht war somit nahezu sinnlos.
Dann kam 1991: Der Golfkrieg von Bush senior.
Geschunden durch die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen hoffen die Nordiraker nun auf den Westen. Sie starten eine Anti-Saddam-Allianz und rebellieren. Doch die Enttäuschung trifft sie bitter, als Bush erklärt, er würde sich in diesen "irakischen Bürgerkrieg" nicht einmischen.
Saddams Rache ist blutig und trifft erneut die Zivilbevölkerung.
Und schließlich leiden die Kurden auch unter dem sog. "Iternal War". Dem Machtkampf der beiden nordirakischen Parteien.
Als es zu einem Krieg zwischen beiden kommt, wird dieser erneut auf kurdischem Boden ausgetragen.

Es verwundert wohl nicht, dass die Eltern ihre Kinder in diesen unsicheren und mörderischen Zeiten Zuhause behielten. Zumal man in solchen Kampfgebieten ganz andere Sorgen hatte (und hat), als den Kindern Bildung zu ermöglichen.
Hinzu kommt, dass besonders in den "Anfal-Familien", in denen die männlichen Oberhäupter fehlen, Kinder und Jugendliche die Aufgabe der Erwachsenen übernehmen müssen.
So ist Kinderarbeit in Form von Schuhe putzen oder dem Umhertragen von Benzinkanistern an der Tagesordnung.

Noch schwerer haben es die Mädchen. Ihre Chance auf schulische Ausbildung ist noch erheblich geringer. Denn auch im Irak spielt die Frau an sich eine untergeordnete Rolle. Sie ist zuständig für Haus und Kinder.
Auch wenn sich die politischen Verhältnisse im Land auf Dauer stabilisieren sollten; an der Situation der Frauen und Mädchen hat sich bisher noch kaum etwas geändert.
Denn die Eltern geben noch einen weiteren Grund an, sie von der Schule fern zu halten; den strengen Moralkodex.
Er basiert auf Tradition und nicht auf Politik.
Man fürchtet um die Unbeflecktheit der Mädchen und somit die "Ehre" der Familie ab dem Zeitpunkt ab dem es zur "Frau" wird. Denn: in irakischen Schulen treffen Mädchen und Jungen aufeinander.
Die Definition von "Frau" unterscheidet sich im Nordirak jedoch stark von der westlichen; in den Augen vieler Kurden endet das "Mädchen-Dasein" mit neun Jahren. Und bevor geheiratet wird muss die Heranwachsende erstmal Hausarbeit lernen.
Je ärmer eine Familie ist, um so früher müssen die Töchter heiraten.

Wollen USA und Regierung tatsächlich das Schulsystem wieder auf Trab bringen, so stehen sie vor vielen Hindernissen.
Zum einen ist da die, bereits angedeutete, extrem frauenfeindliche Gesetzgebung, die unter Hussein galt. Sie verhindnerte zum Beispiel die Geschäftsfähigkeit der Frauen, was bedeutete dass sie nicht einmal alleine zum Arzt gehen konnten.
Dieses Gedankengut gilt es zunächst einmal zu überwinden.
Zwar ist Kurdisch inzwischen Unterrichtssprache im Nordirak (die Schüler verstehen nun zumindest was man ihnen erzählt.) doch der Regierung fehlt das Geld, auch für neues Schulmaterial zu sorgen, welches dringend nötig wäre.
Und ob der Bildungsetat von 63 Millionen US-$ den die USA investieren wollen reicht, um all die zerstörten Schulen wieder aufzubauen ist fraglich. Zumal auch ganz neue Schulen gebaut werden müssten, denn in fast allen ländlichen Gebieten existieren schlichtweg keine!
Doch der Wille ist da - die meisten Kurden würden ihre Kinder lieber zur Schule als zur Arbeit schicken, denn Bildung gilt als sehr wichtig. Seit der Verhaftung Saddams hat sich auch die Desillusion der Jugendlichen in hohe Motivation gewandelt. Sogar in Gebieten in denen viele von ihnen die Hölle auf Erden erleben mussten. Sie bewundern Europa und Amerika und wünschen sich das Verschwinden der harten Gesellschaftsnormen. Sie sehnen sich nach Freiheit und schauen heimlich Videoclips von Shakira oder Robbie Williams. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Bildung muss also nicht erst geweckt werden. Einzig: Die finanzielle Lage gibt es oft nicht her.

Dabei sind Bildung und Aufklärung der einzige Weg, so Trifa Ali, Frauenrechtlerin und Mitarbeiterin einer Frauenzeitung in Suleymaniah, in einem Interview mit Sandra Strobel von "wadi.ev"*.
Sie beklagt unter anderem die immer noch weit verbreitete Praktizierung der weiblichen Genitalverstümmelung im Nordirak.
Bei Aufklärungsveranstaltungen versucht sie die die Frauen, die diese frauenverachtende Praktik immer noch anwenden davon zu überzeugen, ihre Töchter nicht zu beschneiden.
Diese Form der Verstümmelung dient den Eltern hauptsächlich zur Kontrolle der "Unbeflecktheit" ihrer Töchter. Denn sie zerstört jegliches weibliches Lustempfinden, und zwar für immer. Auf brutale Weise.
Trifa Ali sieht die Wurzeln dieses Phänomens jedoch nicht im Islam sondern einzig und allein in der Tradition.
"Der Koran schreibt es nicht vor."
Doch diesen können viele Menschen gar nicht lesen.
Männer wissen bis zu ihrer Hochzeit häufig gar nichts von der Verstümmelung ihrer Frau und die Mütter glauben, ihren Töchtern damit Eheprobleme zu ersparen.
Mit ihrer Aufklärungskampagne konnten Trifa Ali und die Mitarbeiter von Wadi bereits erreichen, dass Frauen wie Männer die Beschneidung bereuten und Einsehen zeigten.
Dass Stimmen wie diese laut werden können ist noch nicht lange an der Tagesordnung. Doch mit dem Schwinden der husseinschen Unterdrückung sprießen nun an vielen Stellen Frauenorganisationen aus dem Boden.

Unterstützung für Frauen im Nordirak bieten auch die frauengeführten "mobile Teams" von Wadi.ev*. Sie diskutieren mit den Frauen der Dörfer über Gesundheitsprobleme, Schulbildung für Mädchen, Zwangsverheiratung und auch Genitalverstümmelung.
Ein Schutzhaus ist zum Beispiel eines der Frauenzentren von wadi.ev in Halabja.
Für viele obdachlose Frauen und Mädchen sind diese Frauenhäuser Zufluchtsorte, zum Beispiel vor der Zwangsheirat. Dort werden sie von Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen betreut. Nur wenige von ihnen leben länger als einige Monate dort, denn meist gelingt es den Frauen sicher zurückzukehren, wenn auch oft durch viele Interventionen im Familienkreis.
Funktioniert dies nicht, werden auch schon mal Ehen vermittelt, denn auf einer alleinstehenden Frau liegt einfach zu viel gesellschaftlicher Druck.
Um ein Begegnungs- und Kulturzentrum handelt es sich in Biara.
Hier finden Workshops, Computerkurse und vor allem Alphabetisierungskurse statt. Eine kleine Bibliothek steht ebenfalls zur Verfügung. Viele Frauen besuchen das Frauenzentrum auch nur, um unter sich zu sein und miteinander reden zu können.
Das Bildungsangebot stößt auf ausgesprochen starke Nachfrage und bei vielen konnte sogar der Wunsch nach einem Studium geweckt werden.

Die Frauen sehen sich inzwischen als den fortschrittlichsten Teil ihres Landes und viele sind entschlossen, die Gesellschaft in der sie leben aktiv mit zu gestalten.
Das Wichtigste, das sie dafür brauchen ist: Bildung.
Den USA sollte dieses Anliegen am Herzen liegen, wenn sie die irakische Gesellschaft tatsächlich modernisieren und demokratisieren wollen!


Erschienen in der Schülerzeitung "Las Culeras"


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