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Die Macht und der Ayatollah

Zuerst Wahlen, dann eine Verfassung? Oder umgekehrt? Im Irak brechen die politischen Widersprüche zwischen säkularen und schiitischen Organisationen auf.

von Thomas v. d. Osten-Sacken und Thomas Uwer

Die Reaktionen deutscher Medien auf die schiitischen Massenproteste der vergangenen Woche fielen verhalten aus. Einzig der Spiegel will in Ayatollah Ali al-Sistani einen »neuen irakischen Khomeini« entdeckt haben. Von der Sache her irritiert das, handelt es sich doch, im Gegensatz zu dem blanken Terror, den Ba’athisten und sunnitische Islamisten seit Monaten im Irak verüben, um die erste ernsthafte politische Krise, in der sich der Irak nach Saddam befindet.

Aber das Bild, das man sich in Deutschland von »den Moslems« macht, ist mindestens so eintönig wie ambivalent. Bereits seit über 100 Jahren pflegt man die Warnung vor den islamischen Massen und weiß doch immer auch, verständnisvoll um sie zu werben. Schon Kaiser Wilhelm II. vertraute seinem Tagebuch an, die Ursache des islamischen Zornes sei, dass Moslems »verachtet, misshandelt und beleidigt« würden, während sein Emissär in Konstantinopel, Freiherr Konrad von Wangenheim, den »Fanatismus des Islam« gegen Großbritannien zu entfesseln suchte. »Er saß in seinem Büro, paffte eine dicke schwarze Zigarre und erläuterte mir den Plan Deutschlands, die fanatisierte islamische Welt gegen die Christen aufzuwiegeln«, erinnerte sich der US-amerikanische Botschafter Henry Morgenthau an den deutschen Nahost-Experten.

Gebracht hat dies alles bekanntlich nichts. Die Hoffnung auf den entfesselten Zorn des Islam, der dereinst Briten, Russen und Franzosen wie heute die US-Amerikaner aus dem Nahen Osten treiben sollte, blieb stets unerfüllt. Wann immer es darauf ankam, hat die berühmte »arabische Straße« sich eben anders verhalten als erwartet – weniger zornig, als vielmehr zurückhaltend da, wo es die Vernunft gebietet.

Als im vergangenen Frühjahr geschossen wurde, blieben die irakischen Zivilisten ganz einfach zuhause und ersparten damit sich und der Welt den angekündigten Showdown um Bagdad genauso wie das viel beschworene zweite Vietnam. Es ist Teil der anhaltenden deutschen Niederlage in Nahost, dass so ganz und gar nicht geschehen will, was deutsche Nahost-Experten prophezeien.

Und geschehen ist im Irak dieses: Nur wenige Wochen vor der geplanten Verabschiedung eines verbindlichen Verfassungsentwurfs befinden sich verschiedene Gruppen und Parteien im Wettlauf um die Rolle des Repräsentanten der größten Bevölkerungsgruppe. Seit nun in Bagdad, Basra und anderen Städten schiitische Gruppen gegen den Beschluss des irakischen Regierungsrates demonstrieren, erst im Jahr 2005 freie Wahlen abhalten zu wollen, treten erstmals die politischen Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Gruppen und Parteien des Landes offen zu Tage.

Während die Übergangsverwaltung der Koalitionstruppen (CPA) und die Vertreter der kurdischen und anderer säkularer Parteien der Ansicht sind, dass es in der momentanen Situation verfrüht sei, freie Wahlen abzuhalten, und einen Prozess vorziehen, in dem mit so genannten Town Hall Meetings einerseits eine neue irakische Regierung bestimmt wird, andererseits demokratische Strukturen vor Ort überhaupt erst etabliert werden, fordert die höchste religiöse Autorität der Schiiten im Irak, Ayatollah al-Sistani, umgehende Wahlen.

Dabei spielt die historische Erfahrung der Schiiten, die seit Gründung des Irak durch die britische Mandatsverwaltung systematisch von der Möglichkeit abgeschnitten wurden, an der Macht zu partizipieren, eine zentrale Rolle. Denn während der »schiitische« Südirak traditionell eine ebenso bedeutende Hochburg säkularer Bewegungen – wie der Kommunistischen Partei – war und mit Basra jene irakische Stadt aufzuweisen hat, die als erste von der Industrialisierung und der damit einhergehenden Herausbildung neuer sozialer Strukturen ergriffen wurde, hielten die sunnitisch-arabischen Regierungen des Landes die Trennung zwischen Schiiten und Sunniten doch immer aufrecht.

Zuletzt betrieb Saddam Husseins Ba’ath-Diktatur, deren Herrschaftssystem sich weitgehend auf sunnitische Stämme und Clans des Zentralirak stützte, eine dezidiert anti-schiitische Politik. Seit Mitte der siebziger Jahre wurde der Klerus in den heiligen Städten Najaf und Kerbala gezielt eliminiert, eine halbe Million Schiiten wurde Anfang der achtziger Jahre in den Iran deportiert, die Aufstände, die in Folge des Zweiten Golfkriegs ausbrachen, wurden mit größter Gewalt gegenüber der Bevölkerung niedergeschlagen. Nach Aussagen eines Offiziers der Republikanischen Garden wurden dabei 300 000 Menschen niedergemacht, deren Überreste nun sukzessive in Massengräbern gefunden werden. Schiit war im Irak, wer als Schiit verfolgt wurde.


Islamisierung im Südirak

In ihrer Forderung nach sofortigen freien Wahlen, der schiitische Gruppen nunmehr auf der Straße Ausdruck verleihen, drückt sich auch die Besorgnis aus, langfristig an Bedeutung auch unter der schiitischen Bevölkerung zu verlieren. Denn während dezidiert religiös orientierte schiitische Parteien wie die Dawa Al-Islamiye oder der Oberste Rat der islamischen Revolution im Irak (Sciri) bislang wenig politische Initiative entwickelt haben, kann es seit der Herausbildung weiterer Parteien als zumindest fragwürdig gelten, ob die von ihnen beanspruchten Schiiten tatsächlich auch »schiitisch« repräsentiert sein wollen.

Diesem möglicherweise drohenden Bedeutungsverlust versuchen vor allem Gruppen zuvorzukommen, die – wie jene um Muqtadr al-Sadr – aus dem einstigen Widerstand gegen das Ba’ath-Regime hervorgegangen sind. Hinzu kommt, dass sich die irakische Shia keineswegs als eine homogene Bewegung darstellt. Obgleich Saddam Hussein jede Opposition gnadenlos verfolgen ließ, fanden Parteien wie Sciri und Dawa, die ebenso wie die Kommunisten im Regierungsrat vertreten sind, im Iran ein Refugium, während säkulare Organisationen keinerlei namhafte Unterstützung aus dem Ausland erhielten.

Ein ehemaliger Kommunist aus Nassiriyah, einer ehemaligen Hochburg des Säkularismus im Südirak, erklärte deshalb kürzlich, man dulde die religiösen Parteien in seiner Stadt, weil sie in der Übergangszeit Sicherheit garantierten. Bei freien Wahlen hätten sie allerdings keine Chance.

Angesichts einer stetigen Islamisierung des Lebens im Südirak, wo der öffentliche Ausschank von Alkohol untersagt ist und kaum eine Frau ohne Abbaya, den traditionellen schwarzen Umhang, auf die Straße geht, können solche Äußerungen durchaus Ausdruck von Wunschdenken sein.

Vor Ort haben islamische Gruppen zum Teil die Rolle lokaler Ordnungskräfte übernommen. So haben sich die Checkpoints der Badr-Brigaden in südirakischen Städten zwar zweifelsfrei als eine wirksame Maßnahme gegen islamistische Freiwillige aus anderen Staaten erwiesen, die Anschläge ausüben wollen. Was an diesen Checkpoints jedoch noch alles unterbunden wird, entzieht sich der Kontrolle der CPA und der Übergangsregierung.

Die voranschreitende Etablierung ziviler Institutionen macht die schiitischen Milizen zwar sukzessive überflüssig. Frauenorganisationen und Liberale aber befürchten, dass sie den Wettlauf gegen die Islamisierung des Südens verlieren könnten, weil vielerorts bereits Tatsachen geschaffen wurden. Eine Islamisierung des Südirak muss allerdings keineswegs einem khomeinistischen Muster wie nach 1979 im Iran folgen. Ayatollah al-Sistani repräsentiert im Gegenteil innerhalb der Shia jene strikt anti-khomeinistische Linie, die eine Trennung von politischer Macht und Klerus fordert.


Sistani vs. Sadr

Unter Druck gerät Sistani nicht zuletzt durch Muqtadr al-Sadr, der gegen die strikte Hierarchie des schiitischen Klerus rebelliert und einen radikal politischen Islam fordert. Eine Rolle dürfte dabei auch spielen, dass Sadr selbst lediglich eine subalterne Rolle innerhalb der religiösen Hierarchie der Shia einnimmt, während er sich zugleich in der Tradition des schiitischen Widerstands gegen die Ba’ath-Diktatur begreift. Seit längerem versucht Sadr, der aus den heiligen Städten Najaf und Karbala vertrieben wurde, in Bagdad die Massen gegen den Klerus in Najaf zu mobilisieren.

Unterstützt wird Sadr dabei vor allem von iranischen Hardlinern, die mit einer gewissen Berechtigung fürchten müssen, die Rolle als Zentrum der schiitischen Welt zu verlieren. Selbst für viele Iraner, die – anders als die Mehrheit etwa der studentischen Opposition – nicht einen völlig säkularisierten Staat anstreben, stellt der quietistische Sistani in Najaf, der traditionellen heiligen Stadt der Shia, eine Alternative zu den Klerikern im iranischen Qom dar, die als korrupt gelten und deren enge Bindungen an das iranische Mullahregime sie unbeliebt gemacht haben.

Die politisierte Version der Shia, wie Sadr sie derzeit vertritt, ist ein buntes Gemisch panarabischer, antiimperialistischer und islamistischer Versatzstücke. So fordert er den sofortigen Abzug der US-Amerikaner und macht im Übrigen Israel für all jene Missstände verantwortlich, für die selbst mit viel schlechtem Willen die US-Amerikaner nicht verantwortlich gemacht werden können. Seine Ausbrüche gegen Israel erinnern an die Propaganda der Ba’ath-Partei ebenso wie seine Versuche, mit seinen Reden die Massen aufzuhetzen.

Als Sadrs Anhänger kürzlich auch noch gegen die Pläne, den Irak in einen föderalen Staat zu verwandeln, demonstrierten und erklärten, »Föderalismus ist ein israelischer Plan, uns zu entzweien«, weckten sie endgültig Ängste, die seit langem im kurdischen Nordirak herrschen. Während einer Demonstration von Sadr-Anhängern in Kirkuk kam es erstmals zu den vor Jahresfrist so oft prophezeiten Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Arabern, als kurdische Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten eröffneten.

Dieser Vorfall in Kirkuk zeigt, wie direkt die Forderungen schiitischer Gruppen derzeit auch die Interessen anderer Gruppen im Irak berühren. Seit der Befreiung von Husseins Regime wird die arabische Presse nicht müde, den Kurden vorzuwerfen, im Interesse des Zionismus zu handeln. Mit der »arabischen Einheit« verbinden sie jene panarabische Ideologie, die in den achtziger Jahren in der systematischen Zerstörung des kurdischen Nordirak kulminierte.


Autonomie im Nordirak

Im Gegensatz zu den schiitischen Gruppen hofft man im kurdischen Nordirak nämlich mehrheitlich, dass freie Wahlen möglichst lange hinausgezögert werden, zumindest bis eine Verfassung, die ihnen weitgehende Autonomie zusichert, verabschiedet ist. Anders als die Schiiten stellen die Kurden im Irak eine Minderheit dar, die obendrein fürchten muss, um jene Errungenschaften gebracht zu werden, die sie in den letzten zwölf Jahren Autonomie erreicht hat. Tatsächlich herrschen im kurdischen Nordirak vergleichsweise stabile Verhältnisse, die Löhne sind höher als im Rest des Landes, und der Einfluss islamischer Organisationen ist zurückgedrängt.

»Den irakischen Kurden ging es noch nie in ihrer Geschichte so gut«, schreibt Hiwa Osman, Mitarbeiter des War and Peace Reporting Institutes in Bagdad, während die Schiiten niemals zuvor die jetzt bestehenden Möglichkeiten gehabt hätten, »ihren Wünschen und Vorstellungen Ausdruck zu verleihen«. Im Gegensatz zu den Kurden und den Bewohnern des Zentralirak hätten die Schiiten nichts zu verlieren, sondern alles zu gewinnen.

Auch wenn freie Wahlen, wie Sistani behauptet, das Ideale für den Irak wären, ist doch den meisten Irakis klar, dass sie jetzt noch nicht abgehalten werden können. Es gibt weder einen Zensus, noch ist die Frage geklärt, ob und wie die im Exil lebenden Irakis an diesen Wahlen beteiligt werden.


Sunnitische Clans im Staatsapparat

Gleichzeitig gründet die Furcht, dass die Schiiten wie unter der britischen Mandatsverwaltung und allen folgenden Regierungen im Irak erneut von der Macht ausgeschlossen werden könnten, auf einer realen Basis. Denn de facto wird der irakische Staatsapparat auch jetzt noch von den sunnitischen Clans dominiert, auf denen Saddam Husseins Herrschaftssystem fußte; im obersten Gericht des Landes sind von 21 Richtern 18 Sunniten aus dem so genannten sunnitischen Dreieck. Auch in den Ministerien, den Bildungseinrichtungen und Medien sind Schiiten nach wie vor in ähnlicher Weise unterrepräsentiert wie Kurden.

Nur zwei Kurden arbeiteten im Außenministerium des Irak, erklärte kürzlich der irakische Menschenrechtler Baktiar Amin: der Minister und ein Pförtner. Während die kurdischen Organisationen im Nordirak jedoch seit langem über eigene zivile Strukturen verfügen und ihre Politik entsprechend daran ausrichten, weitgehende Autonomie zu erhalten, geht es den schiitischen Gruppen, ob religiös oder säkular, um politische Partizipation und eine »Irakisierung« des Irak entgegen der Konzentration der Macht auf das sunnitische Zentrum.

Damit formulieren, mit Ausnahme al-Sadrs, die schiitischen Gruppen zugleich erstmals eigene Interessen, die – und das ist ein Novum im Nahen Osten – im Rahmen der Politik innerhalb eines Nationalstaats verhandelbar sind und deshalb auch lösbar scheinen.

Ihre Proteste stellen dabei wohl nur den ersten von vielen noch anstehenden Konflikten dar. Dass aber die Möglichkeit einer Lösung besteht, die anders als mit der totalen Vernichtung des Gegners, mit Selbstmordattentaten und Heiligem Krieg, erreichbar ist, markiert den Unterschied zwischen al-Sistani und jenen »beleidigten« Trägern des islamischen Zorns, die bereits Kaiser Wilhelm so gut verstand.

Eben weil es ihnen nicht um ein apokalyptisch verstandenes »Alles« geht, weil sie an der sich etablierenden Staatsmacht im Irak partizipieren, schlimmstenfalls sie dominieren wollen, anstatt sie grundsätzlich in Frage zu stellen, eignen sich die schiitischen Demonstranten in Bagdad und Nadjaf deshalb auch so wenig als »arabische Straße«.


veröffentlicht in: Jungle World 6 - 28. Januar 2004


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