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"Humanitäre Interventionen"

Aspekte der politischen und ökonomischen Entwicklung in Irakisch-Kurdistan

Der folgende Vortrag soll weniger auf die konkrete Situation der Menschen und ihre Lebensbedingungen in Irakisch-Kurdistan eingehen, als versuchen einige Aspekte der politischen und ökonomischen Entwicklung zu skizzieren.

Es wäre ein leichtes, über das herrschende Elend in dieser Region zu berichten. Es ist aber anzunehmen, daß im Fernsehen genug Armut, Flüchtlinge und Opfer von Bürgerkrieg und Folter gezeigt werden, so daß eine gebetsmühlenartige Wiederholung, wie schlecht es Menschen gehen kann, nicht nötig ist. Außerdem scheint uns, daß gerade in Bezug auf Irakisch-Kurdistan in den letzten drei Jahren fast ausschließlich "humanitär" argumentiert wurde. Während die Solidarität mit dem Befreiungskampf in Nordkurdistan eine politische ist, beschränkt sich die Unterstützung der irakischen Kurden hauptsächlich darin, für Hilfsprojekte Geld zu sammeln. Es ist aber, angesichts der sich zuspitzenden Situation im Irak, gerade jetzt unbedingt wichtig humanitäres Enagagement mit politischen Analysen und konkreten Forderungen zu verbinden. In diesem Kontext soll folgender Beitrag stehen.

Spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist offensichtlich, daß politische Konzepte mehr und mehr von sogenannten "humanitären Interventionen" abgelöst werden, die vor allem im Trikont neuerdings bewaffneter Art sind. Diese Interventionen endeten bisher im Debakel.

Eine Ausnahme stellt in gewisser Hinsicht Irakisch-Kurdistan dar: Die Schutzzone im Nordirak, die 1991 nach den Aufständen gegen Saddam Hussein eingerichtet wurde, gilt als relativ sinnvolle Maßnahme. Schließlich hält sich Irakisch-Kurdistan seit drei Jahren als autonome, selbstverwaltete Region, die seit 1992 von einem demokratisch gewählten Parlament regiert wird. Jetzt wurde allerdings bekannt, daß auch in Irakisch-Kurdistan bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, in denen sich die beiden großen Parteien, die "Patriotische Union Kurdistans" (PUK) und die "Demokratische Partei Kurdistans" (KDP), gegenseitig bekämpfen. Unverständnis herrscht allenthalben darüber, daß Kurden sich in ihrer schwierigen Situation -eingekeilt zwischen ihnen feindlich gesinnten Nachbarländern- in Bruderkriegen selbst aufreiben.

Warum in Irakisch-Kurdistan ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist und warum, auch wenn der Bürgerkrieg mittlerweile beigelegt scheint, die momentane Situation in Südkurdistan unhaltbar ist, soll im folgenden nachgezeichnet werden.

Der erste Aufstand den die Kurden 1991 unternahmen, wurde unter den Augen des Westens brutal von der irakischen Armee niedergeschlagen. Als Folge flohen mehr als zweieinhalb Millionen Menschen unter ständigem Beschuß in die Berge der Türkei und des Irans. Erst der Anblick dieser Flüchtlinge hat letztlich bewirkt, daß -auf den Druck vor allem der amerikanischen Öffentlichkeit- eine UN-Schutzzone, ein sogenannter "save haven", eingerichtet wurde. Da der Iran, ebenso wie die Türkei, beides Länder, die Fluchtziele der irakischen Kurden waren, kein Interresse hatte diese aufzunehmen und zudem mit der Organisation riesiger Flüchtlingscamps völlig überfordert war, rollte eine internationale Hilfsmaschinerie an.

Von Anfang an wurde das sogenannte Kurdenproblem als humanitäres eingestuft. Die Akteure, vor allem die USA und die UN handelten unter äußerem Druck. Eine langfristige politische Lösung des Kurdenproblems stand dabei nicht auf der Tagesorgnung.

Hinter den erschreckenden Bildern, die 1991 monatelang die Weltöffentlichkeit aufrüttelten aber steht die politische Geschichte Südkurdistans.

Seit 1975 zerstörte die irakische Regierung systematisch die kurdischen Gebiete und führte gigantische Umsiedlungsaktionen durch. Höhepunkt dieser Vernichtungsaktionen stellte 1988 die "Al-Anfal"-Kampagne dar, in deren Verlauf unter anderem die Stadt Halabja mit Giftgas aus bundesdeutscher Produktion bombardiert wurde. Insgesamt wurden im kurdischen Teil des Nordiraks mehr als 4200 Dörfer und zehn Städte dem Erdboden gleichgemacht. Die landwirtschaftliche Selbstversorgung Kurdistans brach zusammen, große Gebiete wurden vermint und von der Regierung zu Todeszonen erklärt. Die Bewohner der zerstörten und entvölkerten Gebiete wurden in den Ebenen in militärisch kontrollierbaren Sammelstädten angesiedelt und, indem man sie in einer nutzlosen und aufgeblähten Bürokratie beschäftigte, von den irakischen Petrodollars abhängig gemacht.

1991 konnten diese Flüchtlinge in das nun quasi unter UN-Kontrolle gestellte Gebiet zurückkehren. Hintergrund dieser Rückkehr aber war nicht der internationale Wille, die Probleme der kurdischen Bevölkerung lösen zu wollen, sondern zu verhindern, daß Millionen von Flüchtlingen im Iran und der Türkei den UN-Flüchtlingsstatus erhalten. Anfangs waren nur einige, zum Teil verminte, Gebiete, vom Saddam Regime befreit. In diese kehrten die Kurden zurück, ohne daß sie einen international anerkannten Status hatten. De facto waren und sind sie Staatenlose im eigenen Land und werden international immer noch als Flüchtlinge behandelt.

Dabei ist Irakisch-Kurdistan faktisch so etwas wie ein eigener Staat. 1992, nachdem auch die großen Städte befreit werden konnten, fand eine Wahl statt und eine Regierung wurde gebildet. Seit der Verhängung einer innerirakischen Wirtschaftsblockade besteht auch wirtschaftlich eine fast völlige Abtrennung vom Rest des Irak. Doch trotz eigener Ökonomie und einer eigenen Regierung, verfügt Kurdistan international über keinen eigenen Status. Die westlichen Staaten und die UN anerkennen alleine die Regierung in Bagdad als Vertreter der irakischen Bevölkerung. Diese hat aber in Kurdistan keinerlei Einfluss. Die kurdische Regierung dagegen besteht nach internationalem Recht nicht, da sie nicht als Vertretung der Menschen im Nordirak akzeptiert wird. Da die Kurden formal Iraker sind, haben sie weder Zugang zu den Botschaften anderer Länder, die sich naturgemäß in Bagdad befinden, noch besitzen sie das, was landläufig Staatsbürgerrechte genannt wird. Nicht anerkannt verfügt die kurdische Regierung kaum über Macht; die von ihr gegebenen Garantien können nicht mittels einer funktionierenden Exekutive durchgesetzt werden.

Selbst in einer menschenverachtenden Diktatur garantiert der Staat, mit den systembedingten Einschränkungen, in Ansätzen gewisse Grundrechte. Wenn also in einer Diktatur jemand stiehlt oder mordet, hat er damit zu rechnen, eine staatlich sanktionierte Strafe zu erwarten.

Dies ist in Kurdistan nicht der Fall. Da der Regierung die Möglichkeiten fehlen, diese vorauszusetzenden Sicherheiten und Rechte zu gewährleisten, vertrauen die Menschen immer noch mehr auf Waffen und Parteien als auf den Staat. Dies ist ein Grund, warum die meisten der Menschen jeweils einer der beiden großen Parteien auf Gedeih und Verderb verbunden sind. Diese beiden Parteien sind mehr oder weniger Stammes- oder Weltanschauungsgruppen, keine von beiden vertritt klar umrissene Klassen- oder Gruppeninteressen. Da ihre Mitglieder zu unterschiedlich sind, verfolgt keine von ihnen ein durchdachtes soziales oder ökonomisches Programm. Wenn beispielsweise Bauern und Großgrundbesitzer Mitglieder ein- und derselben Partei sind, fällt es schwer, ein Konzept zur Lösung der zentralen Landfrage zu finden, da die Interessen dieser beiden Gruppen sich diametral gegenüberstehen. Gleichzeitig teilen sich beide Parteien paritätisch die Regierungs- und Verwaltungsämter (ist ein Gouverneur PUK, dann ist sein Stellvertreter PDK) und die Beamten folgen oftmals mehr den Wünschen ihrer Partei, als den Erfordernissen ihres Amtes, was zu Machtlosigkeit und Paralyse des staatlichen Sektors und zu Erstarkung dubioser gesellschaftlicher Gruppen führt.

Der Wiederaufbau des Landes etwa wird nicht durch die Regierung getätigt. Internationale Geberorganisationen und -länder arbeiten nicht, wie in anderen Trikontstaaten selbstverständlich, durch die Regierung (was sie auch nicht dürfen, da die Regierung offiziell nicht anerkannt ist und somit bilaterale Hilfe völkerrechtlich illegal wäre), sondern stützen lokale kurdische NGO's (Nichtregierungsorganisationen), die oftmals parteigebunden sind und sich prinzipiell von privatwirtschaftlichen Firmen kaum unterscheiden. Fragmentarisierung und Unübersichtlichkeit sind die Folge und die Verteilung der Hilfsgelder führt zu teilweise bewaffneten innerkurdischen Auseinandersetzungen.

Gleichzeitig erstarken durch die politische Machtlosigkeit des Staates reaktionäre Bewegungen, die nicht zuletzt in der schon erwähnten Landfrage und der Gruppe der Feudalherren ihren Ausdruck finden. Diese blockieren den Aufbau Kurdistans auf vielfältige Weise. Einerseits sperren sie sich gegen klare politische Interessenvertretungen der Bauern, die ihren Einfluß untergraben könnten und behindern damit progressive Entwicklungen; andererseits erschweren sie durch diese Politik bereits laufende Aufbauprojekte. So können Bauern, die aus den Sammelstädten in ihre Dörfer zurückkehren wollen, dies teilweise nicht tun, da ihr Land von Großgrundbesitzern besetzt ist. Ähnliche Tendenzen sind in der faktischen und rechtlichen Behandlung von Frauen zu beobachten. Auch hier scheint es, daß die Rechte der Frauen, die in den 70er Jahren durchgesetzt wurden, mehr und mehr eingeschränkt werden. Der Staat hat nicht die erforderliche Macht, einzelne gesellschaftliche Gruppen unabhängig von parteilichen Bindungen zu schützen und eine rechtliche Gleichheit durchzusetzen.

Da es offensichtlich keine langfristige Strategie gibt, wie die autonome kurdische Provinz im Nordirak zu unterstützen ist, bleibt die internationale Hilfe eine relativ unkoordinierte Doktorei an Symptomen. Sie erstreckt sich von einem gezielten Wiederaufbau dörflicher Strukturen, der teilweise außerordentlich erfolgreich ist, hin zu Nahrungsmittelverteilungen, die keinerlei langfristige Probleme lösen können. Auf keinen Fall leistet sie es, die ökonomische und politische Unabhängigkeit Kurdistans maßgeblich zu stärken, sondern treibt die Kurden vielmehr in eine perspektivlose Abhängigkeit von westlichen Gebern bei fortschreitender Destabilisierung der Strukturen des Landes. Ohne die internationale Hilfe würde Kurdistan auch heute völlig zusammenbrechen. Oftmals ist ein Unterkommen bei den Hilfsorganisationen die einzige Chance in den Städten einen Arbeitsplatz zu finden. Doch kann die externe Hilfe die rasende Inflation und ungebremste Verarmung von 80% der Bevölkerung nicht aufhalten, so daß die allgemeine Situation der Menschen sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. Die anfängliche Euphorie von 1991 ist abgelöst worden von Verzweiflung und Perspektivlosigkeit.

Das UN-Embargo gilt weiterhin auch für die befreiten kurdischen Gebiete, so daß wirtschaftliche Unterstützung kaum möglich ist. Anders als landläufig angenommen, verfügt die Region über eine ansehnliche Anzahl weiterverarbeitender Industrie, die seit 1991 größtenteils nicht arbeiten kann, da Ersatzteile und benötigte Importgüter nicht eingeführt werden dürfen. Die Folge ist, daß die irakischen Kurden gezwungen sind, landwirtschaftliche Produkte zu exportieren und weiterverarbeitete Waren zu importieren, was bekanntlich die Ökonomie jeden Landes zu Grunde richtet. Das alles geschieht unter den Bedingungen des Emabrgos, d.h. unter erhöhten Schwarzmarkt- und Schmuggelpreisen. Der dringend notwendigen Unterstützung beim Aufbau einer zumindest den Binnenbedarf abdeckenden weiterverarbeitenden Industrie stehen nicht nur die restriktiven Bedingungen des Embargos im Wege, sondern auch die Tatsache, daß die Nachbarländer, allen voran die Türkei, eine Stärkung des kurdischen Gebietes fürchten. Auch scheinen die internationalen Geber wenig Interesse daran zu haben etwa Industriehilfe zu leisten oder die Kurden bei der Installierung eines eigenen Banksystems zu unterstützen.

Der momentane Status Irakisch-Kurdistans ermöglicht, daß sowohl die Türkei, als auch der Iran, ihre eigene kurdische Opposition auf irakisch-kurdischem Gebiet verfolgen und die Schwäche Südkurdistans als Waffe gegen den kurdischen Widerstand benutzen kann. Die Türkei hält derzeit einen Teil im Norden Irakisch-Kurdistans besetzt, angeblich um PKK-Verbände zu verfolgen. Eher wahrscheinlich ist aber, daß es ihr Ziel ist, einen Sicherheitsgürtel entlang der türkischen Grenze zu errichten, eine "Todeszone", die zu passieren für die kurdischen Guerillas so gut wie unmöglich ist. (Augenblicklich sind an die 40 000 Kurden aus der Türkei in den Nordirak geflüchtet, wo sie unter unwürdigen Bedingungen leben müssen). [1] Gleichzeitig hat der Iran die Bürgerkriegssituation genutzt, ebenfalls ein Gebiet im Osten, vor allem um die Stadt Halabja, zu besetzen und verschiedene Orte mit schwerer Atillerie zu bombadieren.

Dies alleine zeigt, daß ein gesonderter Wiederaufbau eines demokratischen Irakischen-Kurdistans alleine nicht möglich oder machbar ist. Die "Kurdenfrage" muß sowohl im Iran wie in der Türkei gelöst werden, damit es im Nahen Osten eine friedliche und demokratische Entwicklung geben kann.

Trotzdem gibt es verschiedene Möglichkeiten den Status von Irakisch-Kurdistan zu festigen und einen sinnvollen, alle Bereiche betreffenden, Wiederaufbau zu unterstützen.

Denn bisher beschränken sich die internationalen NGO's auf humanitäre Nothilfmaßnahmen. Stattdessen aber muß eine massive Wideraufbauhilfe geleistet werden, die nicht nur von Spendengeldern abhängig ist. Die eingefrorenen irakischen Auslandsguthaben müßten hierfür eingesetzt werden und alle Länder, die zur Aufrüstung der irakischen Armee beigetragen haben, allen voran die BRD und Firmen, die Irak mit Waffen aller Art versorgt haben, müßten gezwungen werden, großzügige Entschädigungen zu zahlen. Wie Amos Oz, Mitglied der israelischen Menschenrechtsbewegung richtig feststellte, ist die BRD als Kriegspartner des Irak einzustufen. Ohne die massive militärische Unterstützung des Saddam-Regimes hätte dieses weder die "Anfal-Offensive" durchführen können, noch vermocht Giftgas zu produzieren. Ähnlich wie jetzt in der Türkei hat die zynische Politik der BRD massiv zur Zerstörung Irakisch-Kurdistans beigetragen. Ohne die Unterstützung des Westens könnte es Diktaturen wie die Saddam Husseins nicht geben. Da besonders die BRD an der Aufrüstung des Iraks beteiligt gewesen war, hätte 1991 Berlin ebenso wie Bagdad bombadiert werden können. Vielleicht daher auch die hysterische Angst, die 1991 die Friedensbewegung auf die Straße und Rentner in die Supermärkte trieb, um Vorräte zu hamstern... .

Wie anfangs angedeutet handelt es sich bei der "kurdischen Frage" nicht um ein ethnisches, sondern um ein viel allgemeineres Problem. Ob es eines Tages einen Nationalstaat Kurdistan geben wird oder die Kurden jeweils in förderativen Staatengebilden leben werden, ist aktuell nicht die Frage. Auch wenn einige Gruppen, wie die "Gesellschaft für bedrohte Völker" oder Südtiroler Separatisten versuchen, die Kurdenproblematik völkisch zu besetzen, geht es in Kurdistan um etwas grundsätzlich anderes. Politische Rechtlosigkeit und faktische Staatenlosigkeit untergraben auf Dauer jedes, wie auch immer geartetes, Gemeinwesen. Die Kurden im Irak erinnern fatal an Minderheiten und Staatenlose im Europa der zwanziger Jahre. Hannah Ahrendt hat dieses Phänomen in den fünfziger Jahren analysiert "Und keine Paradoxie zeitgenössischer Politik ist von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz zwischen den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und der Situation der Entrechteten selbst, die sich so beharrlich verschlechtert hat, bis das Internierungslager, das vor dem Zweiten Weltkrieg doch nur eine ausnahmsweise realisierte Drohung für den Staatenlosen war, zur Routinelösung des Aufenthaltsproblems der "displaced persons" geworden ist." (H. Ahrendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft )

Ersetzt man das Internierungslager durch Flüchtlingslager scheint die Problematik Kurdistans Wort für Wort beschrieben zu sei.

Wie anfangs angedeutet, gibt es für Kurden keine Instanz, bei der sie irgendwelche verbindlichen Rechte einklagen könnten. Menschenrechte, wie sie es seit ihrer Deklaration als Versprechen einer besseren, freien Welt gibt, sind leider bis heute völlig unverbindlich geblieben.

Staatsbürgerrechte dagegen gelten -mehr oder weniger verbindlich- zumindest jeweils für jene, die den entsprechenden Paß besitzen. Und sie sind, vor allem in den westlichen Staaten, von den Bürgern einklagbar. "Schließlich hatte man, wenn man von unveräußerlichen und unabdingbaren Menschenrechten sprach, gemeint, diese seien unabhängig von allen Regierungen und müßten von allen Regierungen in jedem Menschen respektiert werden. Nun stellte sich plötzlich heraus, daß in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr dem Schutze einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf das Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemanden gab, der ihnen dies Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen. (...)Der Begriff der Menschenrechte brach (...) in der Tat in dem Augenblick zusammen , wo Menschen sich wirklich nur noch auf sie und auf keine national garantierten Rechte mehr berufen konnten" (ebda.)

Es ist bitter, mittlerweile wieder mit solchen vor wenigen Jahren noch als bürgerlich verpönten Ideen argumentieren zu müssen. Seit aber weltweit die Zahl derer, die flüchten müssen, ständig steigt, gewinnen sie ungeahnte Aktualität. Denn in irakisch Kurdistan werden die Bewohner (nicht vergessen werden sollte, daß ungefähr zehn Prozent Turkmenen, Assyrer und Araber sind), nicht einmal wie Flüchtlinge, die fast immer und überall noch irgendeinen Status besitzen, behandelt. Sie sind in Realität staaten- und rechtlos. Denn auch die UN gewährt ihnen keinerlei Status. Inmitten einer in souveräne Nationalstaaten gegliederten Welt leben die irakischen Kurden quasi vogelfrei in einem Vakuum.

Eine neue, beispielhafte Entwicklung ist nun das Los der in der BRD lebenden türkischen Kurden, denen selbst das Recht, in der BRD vor ein Gericht gestellt zu werden [2], abgesprochen werden soll.

Daß Kurden berechtigterweise gegen die Politik dieser Regierung demonstrieren und ihnen die Abschiebung in einen Folterstaat droht, ist nicht nur moralisch gesehen eine Aufgabe aller humanistischen Werte. Am Beispiel der Kurden zeigt sich vorbildlich, daß bis heute die Staatenlosigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen eines der größten Probleme darstellt. Es zeigt aber genauso, daß im westlichen Staatsverständnis Rechte nicht verbindlich sind; und was im Nahen Osten gilt, gilt hier um so mehr: Wenn Menschen die letzte Grundlage nicht einmal mehr ihres Lebens, sondern ihrer bloßen Existenz genommen wird, müßten dies eigentlich zur Infragestellung des ganzen Systems führen.

Die Lüge, daß UNICEF oder das Rote Kreuz per humanitärer Hilfe politische oder soziale Probleme lösen können, war einmal bekannt und wurde entsprechend kritisiert. Mitleid und Nothilfe können Rechtlosigkeit niemals abschaffen, können Menschen nie Sicherheit und eine Perspektive bieten.

Heute scheint es, daß allgemeine Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit auch Solidaritätsgruppen anfällig machen für die Forderung nach "humanitären" und in ihrer Folge militärischen Lösungen von Katastrophen in Trikont-Staaten, die Resultat einer fünfhundertjährigen Ausbeutung sind, welche man vor ein paar Jahren noch Imperialismus genannt hat.

Vielleicht haben die Bilder von Flüchtlingen in den Bergen 1991 ein neues Zeitalter eingeläutet, das der allgemeinen Gleichgültigkeit. Sollte dies nicht so sein, gilt es jetzt zu handeln. Im Augenblick gibt es rege Geheimverhandlungen mit dem Regime Saddam Husseins. Frankreich, die BRD und China haben großes Interesse, den Irak, so wie er ist, erneut in jenes Gebilde aufzunehmen, daß man neuerdings "Völkerfamilie" nennt. Ihre Interessen sind natürlich weder von Humanität noch Moral getrübt, sondern richten sich auf eine erneute Ausbeutung der Profitquelle Irak. Sollte das Embargo unter diesen Konditionen aufgehoben werden, würde dies das Ende Irakisch-Kurdistans bedeuten. Es bedeutete auch, daß alles Gerede von der Diktatur Saddam Husseins, dem wahlweise "Irren" oder "Hitler" von Bagdad, sich als reine Strategie entpuppe. Gleichzeitig aber hieße es, daß die irakische Regierung ihre Vernichtungspolitik weiter fortsetzen kann, ohne Widerstand von außen fürchten zu müssen.

Schon seit zwei Jahren führt die irakische Armee einen Vernichtungsfeldzug gegen die Bewohner und geflüchtete Aufständische in den Sumpfgebieten des Südirak durch. Napalm wird eingesetzt, die Flußläufe werden vergiftet. Schätzungsweise 450 000 Flüchtlinge aus dieser Region leben unter erbärmlichsten Bedingungen in Flüchtlingscamps auf der iranischen Seite. Sie sind Staatenlose.

Die Regierung Saddams darf nicht wieder anerkannt werden. Unter Optionen muß dennoch das Embargo gelockert werden und für den kurdischen Teil völlig aufgehoben werden. Nicht nur die Kurden, die gesamte Zivilbevölkerung des Iraks sind Hauptleidtragende des Embargos, während die Wohlstandsinseln der Regierung relativ unbeschadet bleiben.

Es gilt von unten die irakische Opposition zu unterstützen und zu stärken, die sich einsetzt für eine demokratische und föderalistische Republik Irak.

Konsequenzen müssen allerdings auch auf anderen Ebenen endlich gezogen werden.

Die kurdische Regierung ist nach dem Autonomieabkommen von 1974 international anzuerkennen.

Den Kurden im Irak muß eine internationale Schutzgarantie für die Zeit nach Aufhebung des Embargos verbindlich zugesichert werden.

Massive Wirtschafts- und Wiederaufbauhilfe auf bilateraler und NGO- Ebene ist zu leisten.

Kurdistan ist nur ein Beispiel, an dem sich zeigen läßt, daß bisherige Modelle einer vom Westen diktierten Weltordnung kläglich gescheitert sind und außer Hunger, Elend und Hoffnungslosigkeit nichts erzeugt haben. Statt sich in der Festung Europa zurückzuziehen, heißt es, Politik für eine Welt machen, in der das bekannte Verhältnis zwischen Hunger und Reichtum aufgehoben wird.

Dieser Text ist die schriftliche Version eines Vortrags, der Anfang Mai 1994 bei einer Veranstaltung zum Thema Irakisch-Kurdistan im Allerweltshaus/Köln von Thomas von der Osten-Sacken, einem Mitarbeiter des "Verbandes für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit" WADI e.V. gehalten wurde.

Anmerkungen:

[1] Die Flugverbotszone nördlich des 36° Breitengrades gilt offensichtlich auch nicht für türkische Militärmaschinen, die wiederholt Stellungen in Irakisch-Kurdistan bombadiert haben, ohne daß die UN protestiert hätte.

[2] vgl.: "Als Verbrecher kann selbst der Staatenlose den Gesetzschutz erlangen, der in allen zivilisierten Ländern den Strafvollzug regelt: Wenn er sich gegen das Gesetz, das ihn verfolgte, solange er unschuldig war, vergeht, wird plötzlich das Gesetz sich seiner annehmen" (Arendt a.a.O.). Selbst dieser "Schutz" ist von der BRD-Regierung für Kurden aufgehoben!


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