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Interview mit der Taubstummenvereinigung in Sulemaniyah

Irakisch-Kurdistan im Herbst 1994

Im Juli 1993 gründete sich im befreiten Teil der kurdischen Gebiete des Nordiraks die Deaf and Mute Society Kurdistan/Irak. Die Taubstummenvereinigung, die in den kurdischen Städten Sulemaniyah, Arbil und Dohuk Werkstätten eröffnete, hat sich aufgrund des Engagements einiger Taubstummer gegründet. Das Projekt der "Deafmuties" baut auf der gemeinsamen Produktion in Tischler- und Schlosserwerkstätten auf, deren Produkte an internationale Hilfsorganisationen und private Einzelkunden verkauft werden. So stellte die Taubstummenvereinigung beispielsweise im Auftrag von UNICEF über 10 000 Schulbänke her, um die völlig zerstörten Schulen wieder einzurichten. Daneben werden unter anderem Bienenkörbe, Matrial für Spielplätze etc. produziert. Diese Produktion stellt die wirtschaftliche Basis der Organisation dar, die durch die Möglichkeit einer bezahlten Arbeit nachzugehen ein Zentrum für Taubstumme bietet, in dem einheitliche Zeichensprache gelehrt wird und es die Möglichkeit für Austausch, Kontakte und gemeinsame Aktionen gibt. Bisher konnten 95 männliche und 12 weibliche Arbeiter beschäftigt werden.

Neben der gemeinsam geplanten Arbeit organisiert die Vereinigung Ausflüge, Sport- und kulturelle Veranstaltungen. Viele der Arbeiter leben gemeinsam in den Zentren. Ziel ist es, Leben und Arbeiten so eng wie möglich miteinander zu verknüpfen. Der Ruf der Deaf and Mute Society geht über Irakisch-Kurdistan hinaus. Taubstumme aus dem von Saddam Hussein kontrollierten Teilen des Iraks fliehen über die Demarkationslinie, um in einem der Zentren mitarbeiten zu können.

Das folgende Interview mit Vertretern und Arbeitern der Taubstummenvereinigung in Sulemania wurde von Mitarbeitern der Hilfsorganisation WADI e.V., die seit 1993 im Nordirak tätig ist, im Herbst 1994 geführt. Das Interview mußte vom englischen ins kurdische und dann in die Taubstummensprache und vice versa übersetzt werden. Zu Beginn des Gesprächs wurden der Leiter und die Arbeiter befragt, später die Frauen über ihre Rolle in der Deaf and Mute Society und in der kurdischen Gesellschaft. Die Geschäftsführer, die ebenfalls anwesend waren, sind selbst nicht taubstumm.

F.: Wie sah die Politik der Baath-Partei gegenüber Taubstummen aus ?

A.: Die Baath-Partei hat eigentlich nicht zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten unterschieden. Es war ihnen wichtiger, ob man für oder gegen ihre Partei war.

F.: Es hat also keine Einrichtungen oder Treffpunkte gegeben ?

A.: Doch, es hat einen Klub im Nordirak gegeben, in Mossul, in dem aber keine Selbstorganisation zugelassen war. Man durfte nicht arbeiten oder kreativ werden, nur dasitzen und sich unterhalten. Und natürlich wurden die Taubstummen genauso überwacht wie alle anderen.

Wir wollen anhand von drei Beispielen zeigen, daß die Baath-Partei uns genauso behandelt hat wie die Nichtbehinderten. Da ist als erstes Mullah Achmed, der blind war und die Sozialistische Partei unterstützt hat. Auch unter Druck wollte er nichts an die Baath-Partei verraten. Sie haben ihn schwer gefoltert und dann getötet. Ein anderer hieß Schwuan, er war schwer behindert und stumm. Als er einen Brief für die Peschmerga transportiert hat, wurde er dabei erwischt. Sie haben ihn erst schwer und tagelang gefoltert und dann zu sieben Jahren verurteilt. Der Dritte, auch taubstumm, Jalal, ein Araber, hat sich geweigert der Partei beizutreten und ist nach Kuwait geflohen (das war natürlich vor der Invasion). Der Geheimdienst hat ihn dort festgenommen, zurückgebracht und zu Tode gefoltert.

F.(an den Gründer, Falah): Was hast Du zum Beispiel während dieser Zeit getan?

A.: Ich habe in meiner Familie gelebt, ich wollte damals in keinen dieser Klubs eintreten, denn dann hätte ich automatisch Mitglied der Partei werden müssen.

F.: Wie aber entstand die Idee eine solche Vereinigung aufzubauen?

A.: Unsere Idee bestand darin, die neue Freiheit auszunutzen, um sich weiterzuentwickeln. Wenn wir nur wieder zusammengesessen und geredet hätten, wäre das kein Unterschied zur Baath - Zeit gewesen. Da haben wir uns überlegt, welche Tätigkeiten die meisten Taubstummen beherrschen und was sinnvoll für den Wiederaufbau von Kurdistan ist. Die "Kurdistan Front" [1] hat uns dieses Gebäude zur Verfügung gestellt und man hat uns eine Schweißmaschine geschenkt. Dann kamen einige Taubstumme von außerhalb und haben Werkzeug und ein paar Geräte mitgebracht. Das war alles, damit haben wir dann ohne weitere Hilfe angefangen.

Aber ganz wichtig für uns war die Unabhängigkeit von den Parteien, das ist unser Grundsatz.. Die einzelnen Mitglieder hier können gerne in irgendeiner Partei sein, als Vereinigung aber sind wir unabhängig. Deshalb haben wir uns am Anfang - obwohl die das wollten - von keiner Partei helfen lassen.

Wir haben zunächst mit ganz wenigen Leuten Krücken gebaut, und gezeigt, daß wir voller Elan sind. Dadurch sind verschiedene internationale Organisationen, vor allem HANDICAP, auf uns aufmerksam geworden. Das war vor dem 26.7.92. Als HANDICAP uns dann noch etwas unterstützt hat, gewannen wir mehr Selbstvertrauen und haben die "Taubstummenvereinigung Kurdistan-Irak" offiziell am 6.7.93 eröffnet. Alle Parteien und Organisationen waren eingeladen, aber wir haben immer wieder betont, daß von keiner abhängig sein wollen.

F.: Wie genau sah dann Eure Arbeit am Anfang aus?

A.: Wir waren nur 30 Arbeiter und haben uns zunächst hauptsächlich an die verschiedenen Hilfsorganisationen gewendet und sie gebeten uns mit Maschinen für die Schreinerei und die Schweißarbeiten zu unterstützen. Wir haben die wirklich um Maschinen angefleht und hatten damit einigen Erfolg. Am Anfang haben wir nur mit Hilfsorganisationen zusammengearbeitet, denn unser Motto ist: Teilnahme am Wiederaufbau Kurdistans. Wir wollten zeigen, daß unsere Behinderungen uns nicht von dem Wiederaufbau abhalten. Später haben wir dann auch Möbel für Privatleute produziert und sie relativ billig verkauft. So konnten wir uns entwickeln und hatten bis zum Mai schon 95 arbeitende Mitglieder.

F.: Wie werden die Arbeiter denn bezahlt?

Die 95 Arbeiter werden entsprechend ihres Berufs bezahlt, allerdings verzichten sie in den ersten 6 Monaten ihrer Anstellung in unserer Gesellschaft auf jegliche Bezahlung, um so neue Maschinen zu finanzieren. Ähnlich ist es mit den Verwaltern der Projekte. Das monatliche Einkommen beträgt danach zwischen 150 und 300 ID, d.h. etwa 15-30 DM pro Monat. Außerdem erhalten sie neben einer Umsatzbeteiligung noch Naturalien, wie Tee und Medikamente. Mittlerweile werden die Taubstummen nicht mehr als eine Last für ihre oft armen Familien, sondern als eine wichtige Stütze in dieser schweren Zeit angesehen. Tatsächlich verdienen sie in der Regel mehr als der Rest der Familie zusammen und helfen mit ihrem Einkommen ihren Familien. Ja das Einkommen hier ist sogar höher als das auf dem freien Markt. Die Leute wissen das und deshalb haben wir jetzt einen anerkannten Platz in der Gesellschaft. Dies ist natürlich auch ungeheuer wichtig für ihr Selbstbewußtsein.

F.: Welche Art von Ausbildung könnt Ihr vermitteln?"

F: Neben beruflicher Qualifikation erhalten unsere Mitglieder Unterricht in der Taubstummensprache. Das große Problem ist, daß die Signale nicht einheitlich im ganzen Land gelehrt werden. In nahezu jeder Familie hat sich sozusagen ein eigener Dialekt entwickelt. Außerdem treten in letzter Zeit andere Gruppen von Behinderten an uns heran, beispielsweise Blinde, die Organisationen nach unserem Vorbild gründen wollen. Diesen Leuten stellen wir dann unsere Erfahrungen zur Verfügung. Wenn solche Gruppen eindeutig nichtkommerzielle Interessen haben, sind wir auch bereit, ihnen kostenlos Mobiliar zur Verfügung zu stellen.

A2.: Außerdem haben schon 9 Paare bei uns geheiratet. Das ist sehr erfreulich, denn man sieht solche Heiraten in der kurdischen Gesellschaft nicht gerne. Hier aber entwickeln die Leute Selbstbewußtsein. Das Ergebnis ist äußerst positiv, weil die Kinder nicht taubstumm sind, aber trotzdem hier mit uns leben.

F.: Nun würde uns interessieren, wer die Entscheidungen in der Gesellschaft trifft.

A.: Es gibt ein oberstes Komitee aus 5 Mitgliedern, daß sich aus 3 nichtbehinderten Organisatoren und 2 direkt gewählten Taubstummen zusammensetzt. Diesen beiden steht selbstverständlich ein Vetorecht bei allen Entscheidungen zu.

F.: Was habt Ihr gemacht bevor Ihr in die Gesellschaft gekommen seid? (Frage an einige Arbeiter)

A1: Ich wurde von meinem Vater zu allen möglichen Arbeiten gezwungen. Am Ende sollte ich Schäfer werden. Aber ich habe zufällig Falah kennengelernt, der mich hierhergeholt hat. Hier habe ich Tischlern gelernt und auch die verbindlichen Zeichen der Taubstummensprache.

A2.: Bevor wir hierhergekommen sind, waren wir überall verstreut. Viele von uns mußten irgendwelche Dreckarbeit machen, einige waren Schuhputzer oder Lastträger. Andere mußten betteln, richtig um und für ihr Leben, und einige hatten schon eine Ausbildung. Yussif war Tischler und zwei andere Schmiede. Die haben dann den anderen das beigebracht. Er zum Beispiel ist jetzt Verantwortlicher für die Herstellung von Schultischen und -bänken. Er ist Analphabet, und gerade deshalb besonders glücklich, den Schülern beim Lernen helfen zu können. Früher hat man auf uns herabgeschaut oder uns bemitleidet, jetzt sehen die Leute, wie gut wir zusammen arbeiten.

A3.: Wir können aber auch noch andere Sachen. Er beispielsweise ist Kung Fu Trainer und die vier da gehören zu unserer Gesangsgruppe.

F.: Gesangsgruppe?

A.: Natürlich (Vier Arbeiter beginnen ein Lied zu singen)

F.: Ihr dehnt neuerdings Eure Programme auch auf taubstumme Frauen aus.

A.: Ja, das war von Anfang an eines unserer Ziele. Bis jetzt waren wir von der Arbeit der Männer abhängig, um die Gesellschaft aufzubauen Wir legen großen wert auf Programme mit Frauen, um hier gesellschaftliche Gleichheit durchzusetzen. Seit 20 Tagen bilden wir 12 Frauen an Näh- und Stickmaschinen aus.

F.: Warum Nähen und Sticken, das sind doch eigentlich frauenspezifische Arbeiten, die leicht Klischees reproduzieren?

A.: Am Anfang haben Frauen auch in der Schweißerei und mit Holz gearbeitet. Aber ihre Familien haben sich dagegen gewehrt und gedroht die Frauen zurückzuholen. Deshalb haben wir die anderen Kurse eingerichtet.

(Die nächsten Fragen werden an die arbeitenden Frauen gestellt)

F.: Wie steht es mit der Rolle von taubstummen Frauen in der Gesellschaft?

A1.: Vor der Befreiung mußten wir zu Hause bleiben. Die wenigsten von uns waren ein oder zwei Jahre in der Schule.

A2: Die Situation taubstummer Frauen ist wesentlich schwieriger als die der Männer. Die Männer können ausgehen, sich untereinander treffen, die Frauen nicht. Sie werden von ihren Familien als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Gerade die Frauen haben keine gemeinsame Sprache; es ist sehr schwierig für sie sich zu verständigen, deshalb haben wir spezielle Kurse für sie eingerichtet, um die Taubstummensprache zu lernen.

F.: Diese Kurse sind nur für Frauen, die hier arbeiten, oder auch für andere?

A.: Leider im Moment nur für uns, die hier arbeiten. Uns fehlen die Mittel Kurse für alle taubstummen Frauen in Sulemania einzurichten. Es gibt ungefähr 250 Frauen und die meisten von ihnen würden gerne hier arbeiten. Aber in den Kursen wird nicht nur die Zeichensprache gelehrt, sondern auch Lesen und Schreiben. Außerdem werden Informationen über die irakische und kurdische Geschichte etc. gelehrt. Wir wollen auch Filme zeigen, aber dafür fehlt uns der Platz.

F.: Plant Ihr nach der Ausbildung Frauen ebenso anzustellen, wie die männlichen Arbeiter?

A.: Natürlich, die Frauen sollen gleichberechtigt mit den Männern für dasselbe Gehalt arbeiten. Wir planen nicht nur Kleidung herzustellen, sondern auch Schuhe. Es ist uns wichtig, daß Frauen und Männer zusammen die gleiche Arbeit machen. Deshalb ist es ein Wunsch von uns, eine Teppichmanufaktur zu eröffnen. Beide Geschlechter können sowohl die Webstühle herstellen, wie auch an ihnen arbeiten. Das ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Emanzipation. Obwohl wir hier fortschrittlicher denken als die Nichtbehinderten, gibt es auch bei uns noch viele Vorurteile gegen Gleichberechtigung. Auch die Männer müssen unseren Kampf verstehen und unterstützen. Aber das braucht Zeit .....

A2.: Wir wüschen uns auch Unterstützung von nichtbehinderten Frauenorganisationen, gemeinsame Diskussionen und Aktionen. Wir wollen diesen Frauen zeigen, daß wir genauso wie sie für unsere Rechte als Frauen kämpfen. Und ich wünsche mir, daß die Leute, die dieses Interview in Europa lesen, uns ihre Ideen mitteilen.

A3: Dieser Aspekt ist sehr wichtig für uns und unser Selbstverständnis. Wir haben quasi ohne Erfahrung diese Gesellschaft aufgebaut und versuchen seitdem mit internationalen Taubstummenvereinigungen in Kontakt zu treten, haben aber diesen Kontakt immer verschoben, in der Hoffnung, daß die Situation hier ruhiger wird.

Nach den schweren Parteienkämpfen im Frühjahr dieses Jahres und der türkischen Invasion hat sich die Lage in Irakisch-Kurdistan drastisch verschlechtert. Die Menschen verarmen weiter, türkische, irakische und iranische Soldaten bombardieren Dörfer und Städte und eine politische Lösung ist in weite Ferne gerückt. Gleichzeitig verlassen immer mehr internationale Hilfsorganisationen das Land und der Spendenfluß ist versiegt ebenso wie die Solidarität hier mit der Bevölkerung im Nordirak.

Diese Entwicklung hat auch katastrophale Auswirkungen auf die Taubstummenvereinigung in Sulemania. Sie erhält so gut wie keine Aufträge mehr von Hilfsorganisationen und außérdem haben die Menschen inzwischen zu wenig Geld, um die Produkte der Gesellschaft auf dem Markt kaufen zu können. Alle Frauen und viele männliche Arbeiter mußten entlassen werden, und der Gesellschaft droht der Konkurs.

Eine Weiterarbeit und Wiedereinstellung der Entlassenen ist in der momentanen Situation nur mit finanzieller Unterstützung aus dem Westen möglich.

Mit Ihrer Spende und Solidarität kann die Taubstummenvereinigung vor dem Ende bewahrt werden. Bitte unterstützen Sie dieses Projekt.

Spendenkonto: WADI e.V., Postbank NL FFM, BLZ.: 500 100 60, Konto: 6123 05 - 602, Stichwort: Taubstummenvereinigung

Das Interview führten Oliver Piecha und Thomas von der Osten-Sacken. Erschienen in randschau 3/1995.

 

Anmerkung:

[1] Die "Kurdistan Front" ist der Zusammenschluß der sieben bedeutendsten Parteien in Irakisch-Kurdistan. Bis zu den Wahlen 1992 übernahm sie Regierungsfunktionen, ist aber seitdem quasi bedeutungslos.

 


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