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Die Ehre des Patriarchen

Im Nordirak organisieren sich Frauen
gegen Gewalt und Islamisten


von Anne Mollenhauer und Thomas Uwer (WADI e.V.)


Als Reaktion auf die kurdischen Flüchtlinge schuf die Anti-Irak-Koalition 1991 einen "safe haven" im Nordirak. Im Schatten des Golfkrieges entstand so eine selbstverwaltete kurdische Region, die das Schicksal der neuen substaatlichen Enklaven vorwegnahm: Mangels ökonomischer wie politischer Unterstützung setzten sich bald die Strukturen einer um regionale Eliten konzentrierten, von internationaler Hilfe abhängigen Verteilungsökonomie durch, die eine eigenständige Entwicklung unterminierte. Zehn Jahre nach der "Befreiung" ist die islamistische Bewegung in das politische Vakuum des Nordirak vorgestoßen und nutzt die soziale Zerrüttung der Gesellschaft zu einem traditionalistischen Rollback. Seit einiger Zeit steigt etwa die Zahl der Ermordung von Frauen aus sogenannten "Ehrgründen". Nachdem sich Frauen dagegen organisierten, wird jetzt erstmalig in der Öffentlichkeit über Gewalt gegen Frauen diskutiert.

Es war schon besser gestellt um die Popularität der irakischen Kurden. Ihr Aufstand gegen das Baath-Regime in Bagdad bescherte ihnen 1991 eine unverhoffte Beliebtheit. Aus einer kurzfristigen Schutzzone entwickelte sich eine selbstverwaltete kurdische Region. Doch schon mit den nächsten humanitären Interventionen, die nach dem Vorbild des Nordirak in Somalia und Bosnien durchgeführt wurden, zogen viele Hilfsagenturen und Berichterstatter ab. Seither ist von der Region nur noch im Katastrophenfalle die Rede, wenn Flüchtlinge in überfüllten Booten kentern oder ein innerkurdischer Konflikt entflammt. Zuletzt veröffentlichte der Stern (37/2000) unter dem Titel "Im Land der frommen Frauenmörder" einen Beitrag über die islamistische Bewegung in der Region: "Im Namen Allahs misshandeln, verstümmeln und töten sie Hunderte von unschuldigen Frauen. Für Kurdinnen sind die islamischen Hardliner längst zur allgegenwärtigen Bedrohung geworden."

Tatsächlich hat die islamistische Bewegung im kurdischen Nordirak an Einfluss gewonnen und mobilisiert erfolgreich traditionalistische Moralvorstellungen gegen Frauen. So zog im Juni 1998 ein organisierter Mob durch die Geschäftsstraßen der Stadt Arbil und zerstörte Auslagen und Läden, in denen "unzüchtige" Gegenstände wie Frauenwäsche gezeigt wurden, in mehreren Städten kam es zu Brandanschlägen auf Schönheitssalons und Bekleidungsgeschäfte.

Der durch die Abwesenheit staatlicher Verwaltungsstrukturen entstandene Freiraum für Selbstorganisation wird aber nicht nur von Islamisten genutzt. In der Großstadt Suleymaniyah etwa betreuen Frauenkomitees in Beratungszentren und Schutzhäusern Frauen in Notsituationen und schützen sie vor familiärer Gewalt. Ausgerechnet im "Land der frommen Frauenmörder" ist die in der gesamten nah-östlichen Region virulente Problematik sogenannter "Ehrtötungen" an Frauen durch die Lobbyarbeit von Aktivistinnen zu einem Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden.

Frauengruppen wie Islamisten bewegen sich in einem Spannungsfeld, das durch die Schwäche der kurdischen Selbstverwaltung entstanden ist. Im Zentrum dieses Spannungsfeldes steht die Auseinandersetzung um die Rechte und die Rolle von Frauen in der Gesellschaft. Das kam bereits 1991 zu Beginn von "Befreiung" und Selbstverwaltung im Umgang mit jenen Frauen zum Ausdruck, die der Kollaboration mit dem Baath-Regime beschuldigt wurden. Als eine der ersten Amtshandlungen erließ die als Übergangsregierung aus allen Parteien gebildete Iraqi Kurdistan Front 1991 eine Generalamnestie für Kollaborateure und stoppte die Vergeltungsaktionen der Bevölkerung. Während so vielerorts ehemalige Kollaborateure in die kurdische Verwaltung übernommen wurden, gingen die Vergeltungsaktionen an Frauen, denen private Beziehungen zu Baathisten vorgeworfen wurden, weiter. Alleine in den ersten Wochen der "Befreiung" sind nach Schätzungen kurdischer Frauenorganisationen vermutlich weit über 100 Frauen auf brutalste Art ermordet worden. In keinem der Fälle wurde jemals ein Täter zur Rechenschaft gezogen. Die Morde gelten als sogenannte Ehrvergehen - das sind körperliche Strafen bis hin zum Mord, die männliche Familien- oder Clanangehörige gegenüber Frauen verüben, die der moralischen Verfehlung bezichtigt werden. Derartige Verbrechen an Frauen sind im Irak durch das "Gesetz über die moralische Ehre" legalisiert. Dieses zum Höhepunkt der militärischen Kampagnen der Regierung gegen die aufständische Bevölkerung erlassene Gesetz sieht auch die Möglichkeit der Bestrafung von Frauen anstelle delinquenter männlicher Familienangehöriger vor.

Seitdem sich kurdische Frauen jenseits der Frauenverbände der Baath-Partei organisieren können, steht eine Aufhebung des Gesetzes im Zentrum ihrer Aktivitäten. 1994 überreichten Frauenorganisationen parteiübergreifend der kurdischen Regionalregierung einen Gesetzesvorschlag, der neben der Aufhebung des Ehrgesetzes auch eine Gleichstellung in wichtigen Bereichen der Öffentlichkeit und eine explizite Anerkennung der Leistungen von Frauen während der Zeit des Widerstandes gegen die irakische Baath-Regierung beinhaltete. Dass bislang alle diese Versuche der Frauenorganisationen scheiterten, liegt nicht nur am traditionalistisch-patriachalen gesellschaftlichen Umfeld, sondern auch an der strukturellen Schwäche der kurdischen Verwaltung. Weder wurde die faktische Selbstverwaltung der Region national oder völkerrechtlich jemals anerkannt, noch ihre 1992 frei gewählte Regionalregierung als Kooperationspartner für die überlebenswichtige Hilfsprojekte und die Außenbeziehungen zu den Nachbarländern akzeptiert (vgl. iz3w 248). Bereits zum Zeitpunkt ihrer Ernennung war die kurdische Regierung damit weitgehend handlungsunfähig. In der Folgezeit wurde kaum eine der zentralen rechtlichen Fragen, von der Landverteilung bis zum sogenannten Ehrgesetz, geregelt. Sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht ist im kurdischen Nordirak formal wie praktisch irakisches Gesetz weiterhin gültig.

Zur Machtlosigkeit der Regierung hat nicht zuletzt die Politik von staatlichen wie privaten Hilfsorganisationen beigetragen, die mit dem Verweis auf die Nichtanerkennung der Regierung, Gelder gezielt an der unabhängigen Verwaltung vorbeischleusten und ihre Programme stattdessen von parteinahen lokalen NGO umsetzen ließ. Die konkurrierenden kurdischen Parteiverbände verfügten so schnell über weit mehr Einfluss als die aus ihnen gebildete Regierung. Schon bevor diese 1994 in einem Parteienkrieg zerbrach, wurden Schutz und die Teilhabe an internationalen Hilfsprogrammen faktisch nur von den Parteien garantiert. In der Folge standen Schutz und Rechte dem Einzelnen nicht qua schierer Existenz oder zumindest qua Staatsbürgerschaft zu, sondern nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zu Parteien, Familien oder Clan-ähnlichen Gemeinschaften. Dadurch wurden traditionelle lokale Strukturen als Garant für das Überleben in einer Gesellschaft aufgewertet, deren Strukturen durch Krieg, Flucht und Verarmung weitgehend zerrüttet sind.

Es ist nicht zuletzt diese Rückverlagerung gesellschaftlicher Probleme in den lokalen und privaten Bereich, die zum Ansteigen der innerfamliären Gewalt gegen Frauen geführt hat, mit der sich lokale Frauenorganisationen in den vergangenen Jahren verstärkt konfrontiert sehen. In Suleymanyiah hat sich vor diesem Hitergrund 1997 ein Komitee aus allen vor Ort aktiven Frauenorganisationen gegründet und eine Untersuchung über Auswirkungen und Ursachen familiärer Gewalt begonnen. Aus dieser Studie entwickelten sich eine Reihe von Aktivitäten und Projekten, mit denen die Organisationen dem Problem auf lokaler Ebene begegnen. Neben der medizinischen und psychologischen Betreuung von Opfern, organisierten sie offene Beratungsstellen zu sozialen und rechtlichen Fragen. Zum ersten mal in der Region des Nahen-Ostens - mit Ausnahme Israels und der palästinensischen Gebiete - wurden in Irakisch-Kurdistan Schutzhäuser für bedrohte und verfolgte Frauen eingerichtet. Dennoch ist auch diese Arbeit, trotz der erzielten praktischen Erfolge, gekennzeichnet von der allgemeinen Perspektivlosigkeit der Region. Für viele der Frauen, die nicht in ihre Familien zurückkehren können, fehlt eine gesellschaftlich tragfähige Alternative für ein Leben außerhalb der Frauenhäuser.

Innerhalb dieser politischen Perspektivlosigkeit sind die Islamisten erstarkt. Im Gegensatz zu den anderen Parteien, machen sie sich daran, das alltägliche Leben innerhalb Irakisch-Kurdistans spürbar umzugestalten. Sie versprechen dabei eine grundlegende Veränderung, die aus eigener Kraft zu erreichen ist - ein Faktor, der schwer wiegt in einer Region, die auf Gedeih und Verderb vom Goodwill der Nachbarländer und der Aufrechterhaltung eines ungesicherten Status Quo abhängt. Die von den Islamisten propagierten traditionalistischen Konzepte sind allerdings keine Neuerfindungen. Die innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen und die Ehrtötungen, die in Irakisch-Kurdistan wie in der gesamten Region ein strukturelles Problem darstellen, werden von ihnen lediglich legitimiert und zur politischen Tat erklärt.

Der Konflikt zwischen liberalen Frauenorganisationen und der islamistischen Bewegung, die traditionalistische Strukturen reaktiviert, kennzeichnet derzeit den Grundkonflikt innerhalb der kurdischen Gesellschaft. Auf der einen Seite ist es hier den Frauenaktivistinnen zu verdanken, dass die Parteiverwaltung im Süden der Region mittlerweile über eine Aufhebung des "Ehrgesetzes" nachdenkt. Gleichzeitig trägt auf der anderen Seite die politische und soziale Perspektivlosigkeit zum Erstarken der islamistischen Bewegung bei.

(erschienen in Blätter des iz3w, Nr. 250, Januar 2001)


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