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"Sie bekämpfen sich bis aufs Messer"

In der Bundestagsdebatte am 16.02.1995 zeichnete Staatsminister Helmut Schäfer mit diesen Worten das Bild einer irakisch-kurdischen Bevölkerung, die zu einer Selbstverwaltung nicht fähig sei und diskreditierte damit das demokratische Experiment Kurdistan. Vieles was sich dort vor Ort abspielte und auch momentan die politische Lage bestimmt, scheint ihm vordergründig recht zu geben.

Seit Ende 1993 hat es in Irakisch-Kurdistan insgesamt fünf Parteienkämpfe gegeben, die sich inzwischen zu einem permanenten Bürgerkrieg ausgeweitet haben. Im Dezember 1993 gab es heftige Kämpfe zwischen Demokratischer (KDP) und Sozialistischer Partei. Kurz darauf bekriegten sich die Patriotische Union (PUK) und die Islamisten, und im Mai 1994 begannen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den beiden größten Parteien KDP und PUK, die -mit kurzen Unterbrechungen- bis heute anhalten. Seit dem Einmarsch der türkischen Armee im Nordirak sieht es jetzt so aus, daß die vor vier Jahren als demokratisches Experiment begrüßte kurdische Selbstverwaltung vor dem Ende steht. Lieber heute als morgen würde die türkische Regierung die Truppen Saddam Husseins wieder in der Region sehen. Aber nicht nur die Nachbarländer haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie kein Interesse an einem wie auch immer gearteten autonomen Kurdistan im Nordirak haben. International wurde die Regierung in Arbil nie anerkannt, geschweige denn unterstützt. Die von den Alliierten eingerichtete Schutzzone ist genausowenig eine Sicherheitsgarantie für die Bevölkerung, wie sie ein Schutz vor den Übergriffen der türkischen und iranischen Armeen darstellt. Die humanitäre Hilfe im "Flüchtlingslager" Kurdistan ist an die Stelle politischer Lösungen getreten und hat kaschiert, daß es kein politisches Interesse an einer eigenständigen Zukunft Irakisch-Kurdistans und damit auch an der irakischen Opposition gibt.

Jetzt stehen die kurdischen Parteien und Politiker, genauso wie die Hilfsorganisationen, die internationale Solidaritätsbewegung und wohlgesonnene westliche Politiker vor einem Scherbenhaufen. Es ist mehr als zweifelhaft, daß sich die beiden Parteiführer Talabani und Barzani noch einmal einigen können. Selbst eine Intervention seitens der USA, die im Winter 1994 noch zu einem vorübergehenden Friedensabkommen geführt hatte, fruchtete diesmal nicht. Die Atmosphäre ist vergiftet von Haß und Mißtrauen und gegenseitigen Beschuldigungen in den parteieigenen Medien. Selbst während der türkischen Invasion liefern sich KDP und PUK in der Nähe der Hauptstadt Arbil und anderenorts heftige Kämpfe.

Wer auf eine wie auch immer geartete Dritte Kraft aus der Bevlkerung hoffte, die diesen selbstzerstörerischen Wahnsinn beenden könnte, verzweifelt angesichts der kurdischen Realität. Zwar gab und gibt es in der Bevölkerung immer wieder Versuche eine effektive Antikriegsbewegung zu etablieren, doch die Demonstrationen und Massenkundgebungen, an denen sich auch Parlamentarier beteiligen, haben bisher keinen nennenswerten Erfolg gehabt und fanden auch international keinerlei Unterstützung. Trotzdem sind die Friedensbemühungen verschiedener Gruppen äußerst positiv einzuschätzen. 17 kleinere Parteien, vor allem der Linken, haben sich geeinigt und ein Antikriegskomitee gegründet, in Suleymaniah wurde eine Woche des zivilen Ungehorsams mit großer Resonanz durchgeführt. In Arbil entstanden spontan Antikriegs-Komitees, in denen sich die Studenten- und Frauenorganisationen, genauso wie Bauernkomitees und sogar einzelne Mitglieder der großen Parteien engagieren. Auch befinden sich seit dem Beginn der Auseinandersetzung 59 Parlamentarier beider Parteien im Streik; allerdings sind sie untereinander völlig zerstritten. 47 namhafte Intellektuelle und Künstler wurden nur durch eine Massendemonstration daran gehindert, sich aus Protest selbst zu verbrennen. Seitdem befinden sie sich teilweise im Hungerstreik gegen den Krieg. "Langsam begreifen viele Menschen, daß sie gemeinsame Interessen verbinden, die nichts mit den Parteien zu tun haben" meint Mahdi Mahmood Mitveranstalter der "Woche des zivilen Ungehorsams" in Suleymaniah.

Aber auch wenn Kriegsüberdruß und die Angst vor dem absehbaren Ende Irakisch-Kurdistans die Stimmung beherrschen, erreicht die Antikriegsbewegung noch lange nicht alle Teile der Bevölkerung. Die militantere Alternative, auf die Schnelle den Konflikt militärisch zu lösen, hat vor allem in den ländlichen Gebieten und den Parteihochburgen immer noch Hochkonjunktur. Daß aber eine der beiden Parteien die militärische oder politische Oberhoheit über das ganze Gebiet gewinnen könnte, ist illusorisch. Die Kräfteverteilung ist zu paritätisch. Deshalb gewinnt mit dem wachsenden Unmut über die militärischen Konflikte der Parteien die Fraktion derer, die parteiunabhängig den Waffenstillstand fordern, an Stärke. "Die beiden großen Parteien haben bisher kein einziges soziales oder politisches Problem gelöst. Durch den Bürgerkrieg können sie den entstehenden Widerstand und die neuen Forderungen der Menschen hier unterdrücken, die genug von dem Ganzen haben. Dieser Krieg wird solange es nur nach dem Willen der beiden Parteien geht andauern, auch wenn gerade keine Schüsse zu hören sind", beschrieb ein Friedensaktivist schon im September 1994 treffend die Situation.

Seit März bombardiert die irakische Armee wieder verstärkt Städte und Dörfer an der innerirakischen Demarkationlinie, alleine in Kifri starben dabei mindestens zehn Menschen. Als Antwort starteten kurdische Peschmergaverbände Attacken auf irakische Armeeposten. PUK, die KP-Kurdistan/Irak und der Iraqi National Congess (INC) [1] und sogar die Islamistische Partei beteiligten sich an den Kämpfen. Schnell breitete sich in den südlichen Städten Euphorie aus: "Die Bevölkerung macht einen zweiten Aufstand. Es kann wie 1991 werden". [2] Bestätigt ist, daß reihenweise irakische Soldaten übergelaufen sind, während die Peshmerga-Verbände und der INC einige kleine Siege erringen konnten. Auch aus dem Südirak wurden Gefechte gemeldet, es gab Unruhen in Bagdad und zwei Anschläge auf Saddam Hussein. Daß es Absprachen zwischen Kurden, INC und der irakischen Opposition im Südirak gegeben habe, ist allerdings nur Spekulation. Der Versuch jedenfalls, eine kurdische Einigung durch die Konfrontation mit dem gemeinsamen Feind Saddam Hussein zu erreichen, ist offensichtlich gescheitert, da die innerkurdischen Kämpfe weitergehen.

Die Hoffnung, Talabani und Barzani könnten eine tragfähige Einigung erzielen, ist in weite Ferne gerückt. Denn dann müßten sie bestehende Ansätze aufgreifen oder eigene entwickeln, die sich der Lösung der sozialen Probleme Kurdistans widmen, anstatt diese durch die anhaltenden Kämpfe gegeneinander in den Hintergrund zu drängen. Die soziale Lage der Bevölkerung fand schon im letzten "Allianz"-Abkommen vom November 94 [3] keine Erwähnung: Noch immer leben Hunderttausende in künstlichen Sammelstädten, die drängende Landfrage ist völlig ungeklärt, noch immer existiert keine gesetzliche Gleichstellung der Frauen, die Löhne und Gehälter der staatlich angestellten Lehrer und Krankenschwestern, sind seit Monaten nicht gezahlt worden, bis zu 90% der irakischen Kurden sind arbeitslos und die Verelendeung der rund 50.000 innerkurdischen Binnenflüchtlinge nimmt katastrophale Ausmaße an.

Aber das Problem ist nicht nur, daß den beiden großen Parteien ein soziales Konzept fehlt. Auch für Basisbewegungen und Gewerkschaften stellt sich die Situation äüßerst schwierig dar. Unter der Baath-Diktatur war jede Art der Selbstorganisation verboten. Auch in Irakisch-Kurdistan werden die Gruppen und Komitees, die sich meist als konkrete Interessenvertretungen gründen, nicht gerne gesehen. Immer wieder haben die großen Parteien versucht diese Bewegungen zu vereinnahmen und machten im Zweifelsfall auch vor Repressionen nicht halt. In Suleymaniah zum Beispiel ließ der Gouverneur im vergangenen Sommer in eine Demonstration von Kirkuk-Flüchtlingen schießen, die gegen ihre drohende Vetreibung aus der Stadt demonstrierten. Kurze Zeit später wurden die Hütten der Flüchtlinge mit Planierraupen eingerissen.

Es existieren quasi keine unabhängigen Frauenorganisationen. Die Frauenverbände der Parteien, die mehr oder weniger die Rolle frauenspezifischer Wohlfahrtsvereine übernehmen, sind oftmals stärker damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bblockieren, als die schreiende Ungleichbehandlung von Frauen zu bekämpfen. Nach über zwanzig Jahren Baath-Herrschaft haben zudem die wenigsten AktivistInnen in Kurdistan organisatorische Erfahrung mit dem Aufbau von NGO's oder Grass-Root-Movements. Ein weiteres, schier unlösbares Problem stellt die strukturelle Schwäche der Regierung in Arbil dar. Sie stellt keinen geeigneten Adressaten für soziale Forderungen oder Gesetzesänderungen dar, denn das Parlament ist im Prinzip handlungsunfähig. "Die wollen doch die Lage der Frauen gar nicht ändern. Und selbst wenn die ein Gesetz verabschieden würden, würde sich niemand daran halten" erklärte eine Mitarbeiterin der "Liga der Frauen Kurdistans" im letzten Sommer. Das Dilemma, daß es eigentlich keinen Staat gibt, sondern nur Hoheitsgebiete von Parteien, schwächt auch die linke Opposition. Denn auch ihr fehlt in gewissem Sinn der Adressat für Forderungen, wenn sie sich aus dem Bann zwischenparteilicher Anschuldigungen lösen will. Da die Parteien PUK und KDP -die mehr modernisierten Stammesorganisationen ähneln, deren Hauptinteresse Machterhalt ist- jedes Konfliktfeld zu instrumentalisieren versuchen und damit auf die zwischenparteilichen Auseinandersetzungen übertragen, ist eine inhaltliche politische Auseinandersetzung mit ihnen für die Linke äußerst schwierig. Die Polarisierung ist zu der ungeheuerlichen Logik fortgeschritten, daß wer die eine kritisiert, der anderen Partei Wort redet.

Als Antwort auf diese Krise versuchen gerade jüngere Mitglieder in der Kommunistischen Partei die alten hierarchischen Strukturen aufzubrechen und eng mit sozialen Bewegungen zusammenzuarbeiten. "Wir müssen aufhören immer nur an die Partei zu denken. Früher haben wir die sozialen Bewegungen vereinnahmt, [4] jetzt sollten wir sie aber vor allem unterstützen und uns für sie einsetzen, ohne an die Partei zu denken," erklärte ein Vertreter der KP-Linken. [5] Da die Arbeiterklasse einen verschwindend geringen Teil der kurdischen Bevölkerung ausmacht, diskutiert man in linken Oppositions- und Intellektuellenkreisen über neue Strategien, die alle sozial unterpriviligierten und marginalisierten Gruppen vernetzen können. Die wichtigste Frage ist, wie die unterschiedlichen Gruppen mit ihren verschiedenen Forderungen so kooperieren können, daß eine breite Bewegung von unten entsteht. Ob ein derartiges Konzept sich in der Linken durchsetzt, bleibt abzuwarten. Die radikalen Arbeiterkommunisten und andere Oppositionsorganisationen halten bis jetzt noch relativ dogmatisch an der zentralen Bedeutung der Arbeiter für soziale Veränderungen fest.

Diese Diskussionen, die von verschiedenen Gruppen in Kurdistan geführt werden, müßten auch von den internationalen Solidaritätsgruppen dringend aufgegriffen werden. Anstatt wie bisher hauptsächlich rein humanitäre Wiederaufbauhilfe zu unterstützen, muß man sich fragen, wie Selbstorganisation etwa der Bauern, Arbeitslosen oder Flüchtlinge konkret unterstützt werden kann. Wichtig ist es hierbei, humanitäres Engagement, das nicht aufgrund der katastrophalen Situation eingestellt werden darf, mit sozialem und politischem Anspruch zu verknüpfen. Solidarische, politische Unterstützung der Bevölkerung sollte genau da ansetzen, wo sie sich organisiert, um in einer scheinbar hoffnungslos erscheinenden Lage Perspektiven zu entwickeln. Viele positive Ansätze sind zu verzeichnen, so hat beispielsweise die Arbeitslosenunion in Suleymaniah ein Verkaufssystem organisiert, bei dem Arbeitslose Produkte zum Selbstkostenpreis erhalten. Auch haben sich im Sommer die Frauenorganisationen der PUK und KP zu begrenzter Zusammenarbeit entschlossen. Seitdem werdenAlphabetisierungsschulen, die von beiden Parteien eingerichtet wurden, unter einem einheitlichen Namen geführt. Gerade die Überparteilichkeit der Projekte hat große Resonanz bei den Frauen gefunden. Auch gab es Diskussionen, ob nicht die Bauernkomitees billig ihre Produkte an gleichgesinnte städtische Organisationen verkaufen, anstatt an Zwischenhändler, die hohe Preisaufschläge durchführen.

All diese Ansätze werden übersehen, wenn das Bild einer Bevölkerung gezeichnet wird, die zur Selbstverwaltung nicht in der Lage sei. Ebeneso wie vergessen wird, daß die internationale Politik maßgeblich Schuld an der Lage der irakischen Kurden trägt. Bei aller Kritik an der Politik der kurdischen Parteien muß klar sein, daß die katastrophalen Rahmenbedingungen Irakisch-Kurdistans ursächlicher Auslöser der momentanen Situation sind. Langfristig können nur internationale Anerkennung und gezielte Aufbau- und Wirtschaftshilfe das Gebiet vor dem totalen Chaos retten. Sollte Irakisch-Kurdistan jetzt zusammenbrechen, wäre das nicht nur ein unermeßliche Katastrophe für alle Kurden, sondern ein Rückschlag für jedwede demokratische Bewegung im Nahen Osten. Einzige Gewinner wären die Regimes in Bagdad, Teheran und Ankara.

Trotz der undurchsichtigen und hoffnungsarmen Lage gilt es sich weiter für die kurdische Selbstverwaltung einzusetzen. Gerade die offene Unterstützung der türkischen Invasion in Irakisch-Kurdistan zeigt, daß der westen weiter an einer militärischen Lösung des Kurdenproblems festhält. Sie hat auch gezeigt, daß die Kurdistansolidarität grenzüberschreitend sein muß.

Thomas von der Osten-Sacken / Thomas Uwer
Die beiden Autoren sind Mitarbeiter der Hilfsorganisation WADI e.V., die seit zwei Jahren in Irakisch-Kurdistan tätig ist.
(Erschienen in blätter des iz3w, 1995)

Anmerkungen:

[1] Der INC ist ein Dachverband verschiedener irakischer Oppositionsgruppen, mit dem vor allem in der Zeit nach dem Golfkrieg die USA und Großbritannien als zukünftige irakische Regierung liebäugelten.

[2] Aus dem Bericht eines Mitarbeiters von WADI aus Suleymaniyah.

[3] Das Allianz-Abkommen sollte das Ende des Parteienkriegs vom Sommer 94 besiegeln. Einen Monat später gings dann in die nächste Runde ....

[4] Die ICP war bis zum Zeitpunkt ihrer Zusammenarbeit mit der Baath-Partei (1972 - 1978) die größte Massenorganisation des Iraks.

[5] Aus einem Fax von Majdi Mahmoud an WADI, Februar 95.

 


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