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"Ein zweites Basra ..."

Die irakische Regierung forciert die Arabisierung Kirkuks

Chemchemal gleicht auf den ersten Blick vielen anderen Grenzstädten. Das Leben hat sich auf die Hauptstraße ausgerichtet, die von der Grenze kommt und die Durchreisenden in die Stadt bringt. Fliegende Händler bieten ihre Waren an, in Garküchen können sich die Berufsfahrer verpflegen, und ölgetränkte Areale voll mit Autoreifen und verrosteten Karosserieteilen bilden die improvisierten Werkstätten, in denen die durchfahrenden Wagen gewartet werden können. Aber Chemchemal liegt an keiner Staatsgrenze. Die kurdische Kleinstadt zwischen Kirkuk und Suleymania befindet sich direkt an der Demarkationslinie, die den kurdisch kontrollierten Teil im Norden vom Rest des Irak trennt. Und neben dem minimalen offiziellen Handel und dem Schmuggel hat sich hier über die Jahre hinweg eine andere Art des Grenzverkehrs etabliert: Fast täglich erreichen neue Familien aus Kirkuk die ersten kurdischen Posten an der innerirakischen Grenze. Ihre Geschichten gleichen sich. Vor einiger Zeit haben sie eine Art Ausweisung erhalten. Kurz vor dem entsprechenden Termin wurde meist ein Familienmitglied verhaftet und als Geisel inhaftiert, damit der Rest der Familie sich ohne Widerstand oder ohne vorher unterzutauchen abtransportieren läßt. Sollte die Familie nicht kooperieren, würde der Inhaftierte gefoltert, so wurde ihnen gedroht. Aller nichtbewegliche Besitz wird von den irakischen Behörden beschlagnahmt, ehe sie auf geschlossenen Lastwagen zur Demarkationslinie gebracht werden, um zusammen mit der Geisel auf kurdisches Territorium abgeschoben zu werden.

Seit über vierzig Jahren bereits versuchen irakische Regierungen, die nordirakische Region um Kirkuk mit loyalen arabischen Stämmen zu besiedeln. Mit Machtübernahme Saddam Husseins 1979 wurden diese Versuche intensiviert. Es begann eine systematische Arabisierung des erdölreichen Gebietes, die 1988 im Rahmen der sogenannten Al-Anfal Kampagne ihren Höhepunkt erreichte. In dieser Zeit wurden alle Dörfer im Gouvernement Kirkuk, die von Kurden besiedelt waren, zerstört und ihre Bewohner in Sammelstädte transportiert. Während aber in anderen Gebieten Kurdistans die ländlichen Gebiete zu No-Go-Areas wurden, begann man gezielt, im Umland Kirkuks neue, arabische Dörfer aufzubauen. Diese Neubesiedelung hält an, und seit neuestem werden diesen Dörfern Namen wie Jaffa, Akko und Haifa gegeben. Die Intention des Regimes bei derartigen Namensgebungen ist offensichtlich: Verlorener "arabischer Boden" soll zurückgewonnen, die Kurden implizit zu Gegnern erklärt werden. Ähnlich verfährt man in der Stadt Kirkuk selbst, einer Stadt, in der noch vor einigen Jahrzehnten Kurden, Araber, Assyrer und Turkmenen nebeneinander lebten. Das dahinterstehende Programm der irakischen Regierung wurde kürzlich von einem Beamten des Innenministeriums klar formuliert: In einigen Jahren soll Kirkuk so arabisch sein, wie es heute das südirakische Basra ist. So werden systematisch Straßen, öffentliche Gebäude und Plätze, die kurdische Namen hatten, umbenannt. Den kurdischen Bewohnern von neuen "arabischen" Stadtvierteln droht die Ausweisung. Alleine 1997 wurden von der europäischen Öffentlichkeit unbeachtet 851 Familien nach Suleymania im kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak ausgewiesen. Eine ähnlich hohe Zahl wurde in die kurdische Regionalhauptstadt Arbil transportiert. Statistiken des zentralen Registrierungsbüros für "Internal Displaced Persons" in Suleymania sprechen von 1392 Menschen, die von Anfang des Jahres bis zum 5.8.1998 gewaltsam gezwungen wurden, Kirkuk zu verlassen. Und in Arbil wird eine ähnlich hohe Zahl Menschen eingetroffen sein.

Hier erwartet die Neuankömmlinge das Schicksal Tausender anderer Flüchtlinge, die in den letzten sieben Jahren vor einem der unzähigen Konflikte in Irakisch-Kurdistan fliehen mußten: Das Leben in einem Camp fernab jeder Stadt, ohne eine Perspektive, Arbeit und Auskommen zu finden. Die Lager rund um Suleymania sind zum Inbegriff der Aussichtslosigkeit vieler Kurden geworden. In vorfabrizierten Flüchtlingsunterkünften, die eigentlich für eine kurze Aufenthaltsdauer bestimmt sind, leben einige der "Internal Displaced" seit nunmehr sieben Jahren, ohne daß sich eine Lösung für sie gefunden hätte. Sie sind völlig abhängig von der Hilfe, die die UN und die Hilfsorganisationen ihnen zukommen lassen.

Nach Inkrafttreten des sogenannten "Oil for Food"-Abkommens zwischen der irakischen Regierung und der UN ist es dem Irak erlaubt, halbjährlich für sechs Milliarden Dollar Öl zu verkaufen. Diese Summe fließt hauptsächlich in humanitäre Hilfe. Für die Verwaltung der Erlöse im kurdisch kontrollierten Nordiraks ist die UN zuständig. Daß nun mit diesen Geldern der steigenden Zahl der Flüchtlingen aus Kirkuk geholfen wird, erscheint als Treppenwitz der Geschichte. Anstatt gegen die irakische Arabisierungspolitik zu protestieren, erscheinen die Kirkuk-Flüchtlinge den Hilfsorganisationen nur als weiteres humanitäres Problem. Diskutiert wird z.B., ob die UN oder eine Nichtregierungsorganisation für die Wasserversorgung oder die Lebensmittelzuweisung verantwortlich ist, nicht aber, wie Saddam Husseins Politik zu stoppen sei. Auf diesen Widerspruch angesprochen, antwortet der zuständige Vertreter der UN, er habe kein politisches Mandat und sei nur für die humanitären Angelegenheiten zuständig. Wie beides in einer Region wie Irakisch-Kurdistan - wo die Lösung politischer Probleme seit sieben Jahren regelmäßig mit Hilfe "humanitäre Interventionen" aufgeschoben wird - zu trennen sei, erklärt er hingegen nicht. So blieb Amnesty International mit ihren Protesten gegen die irakische Arabisierungspolitik in Kirkuk im April diesen Jahres weitgehend alleine. Auch die irakische Opposition hält sich bedeckt. Lediglich die Irakische Kommunistische Partei protestierte im Juli in einer Erklärung gegen die erneute Zunahme der gewaltsamen Abschiebungen von Kurden aus Kirkuk.

Währenddessen versorgen die UN und die Hilfsorganisationen notdürftig die neuangekommenen Kirkuk-Flüchtlinge. Vergessen scheint die UNSC Resolution 688, die es dem Irak verbietet, mit Gewalt gegen ethnische oder religiöse Bevölkerungsgruppen vorzugehen. Während im Ausland das Interesse an einer langfristigen politischen Lösung abnimmt, schafft Saddam Husseins Regime im gesamten Irak demographische Tatsachen. Nachdem die riesigen Sümpfe im Südirak ausgetrocknet und ihre Bewohner umgesiedelt wurden, ohne daß es einen erkannbaren internationalen Widerstand gegeben hätte, wird jetzt jede - und sei es eingebildete - Opposition in in der Region Kirkuk zerschlagen. Wie auch immer die Zukunft des Irak aussehen mag, Kirkuk zumindest soll fest in irakischer Hand bleiben. Eine Grundlage für etwaige Ansprüche der Kurden (zeitweilig wurde in Suleymania der Kampfslogan, Kirkuk sei das kurdische Jerusalem, verbreitet) soll für alle Zeiten zerstört werden. Der Gouverneur von Neu-Kirkuk Jalal Jawhar, der politisch die Kirkuk-Flüchtlinge in der kurdisch kontrollierten Region vertritt, schätzt, daß heute über 60% der Bevölkerung in Kirkuk Araber sind. Zum Vergleich: Laut letzter ernstzunehmender Zählung lebten im Jahre 1957 28% Araber, 48% Kurden und 24% Assyrer und Turkmenen in Kirkuk.

Ein Ergebnis dieser Politik jedenfalls zeichnet sich schon jetzt ab: Eine zunehmende Ethnisierung des Konfliktes, die ganz im Interesse Saddam Husseins liegt. Gezielt wird so den Versuchen der Opposition, eine gesamtirakische demokratische Alternative zu entwickeln, der Boden entzogen.

Thomas von der Osten-Sacken, WADI e.V., Suleymania

erschienen in der Jungle World im Nov. 1998


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