Thomas Uwer
Fluchtbewegungen aus dem Irak und Iran nach Europa und Deutschland
Redebeitrag auf der Konferenz "Kurden im Irak und Iran" in der Ev. Akademie Bad Boll v. 30. 11. - 2. 12. 2001
Es ist bezeichnend, dass diese Tagung, wie so viele andere über
die Kurden, wieder bei dem Thema Flüchtlinge landet. Dass dies
immer und zwangsläufig so ist, scheint in einer einfachen Tatsache
begründet: Ein großer Teil der Kurden lebt heute außerhalb
des traditionell kurdischen Siedlungsgebietes, in der Westtürkei,
in Europa, Kanada oder den USA. Und sieht man einmal von der biologistischen
Vorstellung des Begriffs Ethnie oder Volk ab und folgt statt dessen
der sinnvolleren, weil sozialen Definition, dass nämlich Kurde
ist, wer von sich behauptet einer zu sein, dann stellt sich das
Verhältnis sicherlich noch deutlicher dar . Dies liegt daran,
dass es keine Selbstverständlichkeit und daher sekundär
ist, Kurde zu sein, solange Kurden als Kurden verfolgt werden. Wer
über die Kurden spricht, muss also immer auch über Flüchtlinge
sprechen. Und genau darin verbirgt sich das zentrale Problem.
Denn es ist eben die besondere Eigenschaft des Flüchtlings, keine Eigenschaften im gesellschaftlichen Sinne zu haben. Wer auf der Flucht ist, der befindet sich nicht nur auf der Reise von einem Ort zum anderen, sondern wechselt quasi von einer Vergangenheit in die Zukunft über, von der er sich Besseres erhofft. Die Flucht selbst ist das oft leidvolle Interim dazwischen, wer sich darin befindet ein "Flüchtling", keinem Gemeinwesen zugehörig, der Gesellschaft, der er entfloh, so entfernt wie demjenigen, das er anstrebt. Wo er auftaucht, ist er unerwünscht, er versteckt sich und verbirgt seine Identität, er ist - gesellschaftlich gesehen - ein Unding. "Der Verlust der Menschenrechte", beschrieb Hannah Arendt das Phänomen, "findet nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verloren geht, sondern nur wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind."
Die Genfer Flüchtlingskonvention, das völkerrechtlich bindende Vertragswerk für alle Signatarstaaten, die im regierungsamtlichen Sprachgebrauch der rot-grünen Regierung "humanitäre Verpflichtungen" heißt, baut genau auf diesen Gedanken auf. Weil das Recht, Rechte zu haben, in einer nationalstaatlich organisierten Welt nur der jenige genießt, der Teil eines nationalstaatlichen Gemeinwesens ist, müssen Flüchtlinge so schnell wie möglich aus dem rechtlosen Interim heraus und in eine der Gesellschaften integriert werden. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist streng genommen kein Recht für Flüchtlinge, sondern der Versuch, den Flüchtling abzuschaffen. Der Grundsatz, mit dem dieser Versuch unternommen wird, entspricht der Empfehlung, die der britische Jurist R. Yewdall Jermings bereits Ende der Dreißiger Jahre seiner Regierung gab: Das Ziel der Flüchtlingspolitik ist es, dass der Flüchtling sich "seines Status so schnell wie möglich entledigt, sei es durch Repatriierung oder durch Naturalisierung in seinem Zufluchtsland." Rechte genießt der Flüchtling also erst, wenn er aufgehört hat, Flüchtling zu sein.
Recht und Rechtssicherheit, zu der die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit staatlichen Handelns gehört, setzen immer auch Dauerhaftigkeit voraus. Ein "normales" Leben ist nur möglich, wenn man eine Zukunft planen kann. Sicherheit existiert nur, wenn man weiß, dass der Staat, in dem man lebt, einen nicht schon morgen vielleicht aus politischen oder ökonomischen Interessen als unerwünscht behandelt. Die Dauerhaftigkeit ist daher ein zentrales Prinzip der GFK. In Artikel 34 heisst es: "The Contracting States shall as far as possible facilitate the assimilation and naturalization of refugees. They shall in particular make every effort to expedite naturalization proceedings...". Die Empfehlung entspricht dem Geist der Konvention, die als Vertragswerk die Verantwortung für Flüchtlinge von der International Refugee Organisation (IRO) auf die Nationalstaaten übertrug. Zwei Drittel der GFK beschäftigen sich mit Rechten innerhalb dieser Nationalstaaten, die den rechtlosen Status des Flüchtlings aufheben sollen und nur unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit einen Sinn ergeben: Nichtdiskriminierung (Art. 3), Religionsfreiheit (Art.4), Eigentumsrechte (Art. 13 & 14), Arbeit (Art. 17 - 19), Unterkunft (Art. 21) Bildung (Art. 22) oder Teilhabe am Wohlfahrtssystem (Art. 23), zielen direkt auf die Integration in die Aufnahmeländer ab. Eine "normale Existenz", so der damalige UN-Generalsekretär, "wird nur möglich sein, durch die schnelle Erteilung eines dauerhaften und sicheren Status innerhalb der Staaten" . Wie wenig Interesse eben diese Staaten an einer dauerhaften Eingliederung der Flüchtlinge haben, zeigte sich bereits daran, dass es volle drei Jahre nach Abschluss der Genfer Flüchtlingskonvention dauerte, bis Australien mit seiner Ratifikation die notwendigen sechs Mindestunterzeichner vollständig machte .
Dieser Unwille hält an. Zunehmend werden Flüchtlinge
nicht dauerhaft, sondern mit vorübergehendem und sinkendem
Status anerkannt. Das erklärte Ziel der Flüchtlingspolitik,
die Lösung des Flüchtlingsproblems, orientiert sich bekanntermaßen
nicht am Flüchtling, sondern an den Interessen der Aufnahmeländer.
"Humanitäre Verpflichtungen" (s.o.) geben dabei einen
Mindeststandard vor, der die europäische Flüchtlingspolitik
darauf beschränkt, Flüchtlinge davon abzuhalten, Europa
zu erreichen und jene, denen dies dennoch gelungen ist, die Flüchtlingseigenschaft
entweder abzusprechen oder ihnen - durch Eingriffe in ihrem Herkunftsland
- einen komplementären Schutz außerhalb Europas zu schaffen
und sie somit faktisch rückführbar zu machen. Davon geprägt
sind alle seit 1990 auf europäischer Ebene beschlossenen Programme,
sei es die temporary protection, die Programme zur Fluchtursachenbekämpfung
oder die Schaffung von Schutzzonen. Diesem Primat der Flüchtlingsabwehr
sind auch Maßnahmen und Regelungen der Entwicklungszusammenarbeit
unterworfen, die darauf abzielen, dass sich die Situation in den
Herkunftsländern bessern möge.
Damit ist ein grundsätzlicher Wandel vonstatten gegangen: Der
Flüchtling soll nicht mehr abgeschafft werden - indem man seinen
rechtlosen Interim-Status als Flüchtling beendet - er soll
ausgeschafft und außerhalb geografischer Grenzen aufgefangen,
versorgt und geschützt werden. Sein rechtloser Interim-Status
wird nicht - wie es die GFK wollte - aufgelöst, er wird in
Protektoraten und Schutzzonen künstlich aufrechterhalten und
in Europa selbst eingefroren und verlängert. Davon betroffen
sind derzeit neben Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien
vor allem Iraker.
Der übliche Status für irakische Flüchtlinge in Deutschland ist der eines befristeten Aufenthalts. Politisches Asyl im Sinne des Art. 16 a GG - und damit die Perspektive auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland - erhalten die allerwenigsten . Entgegen der Entwicklungen vor Ort sank der Status irakischer Asylbewerber nicht nur in Deutschland, sondern europaweit in den vergangenen Jahren kontinuierlich bis hin zur Duldung aufgrund vorliegender Abschiebehindernisse. Dass dies so ist, liegt zum größten Teil in der Tatsache begründet, dass der kurdische Nordirak aufgrund der momentanen Abwesenheit staatlicher irakischer Verwaltungsorgane als inländische Fluchtalternative und damit als sicher vor der Verfolgung des irakischen Baath-Regimes angesehen wird. Für immer mehr Iraker, denen Sicherheit vor Verfolgung auch außerhalb der Grenzen Europas im Nordirak attestiert wird, ist damit die Weigerung der Türkei, bei Rückschiebungen in den Nordirak zu kooperieren, der einzige Schutz vor einer Abschiebung.
Gegenüber dieser Entwicklung ist eine gewisse Gleichgültigkeit zu beobachten. Die Tatsache, dass im strengen asylrechtlichen Sinne das sog. große Asyl für die meisten der Flüchtlinge aus dem Irak nicht anwendbar ist ,führt zu einem vorauseilenden Verzicht auf die Forderung nach einem dauerhaften Status. Immerhin, so die landläufige Einschätzung, seien Iraker praktisch nicht rückführbar, auf die Haltung der Türkei auch zukünftig Verlass und daher die Frage eher akademisch. Dass dem leider nicht so ist, liegt in zwei Tatsachen begründet: Erstens sind die Folgen für irakische Asylsuchende sehr wohl weitreichend, sinken doch parallel zum Anerkennungsstatus auch die Rechte, an Sozial- und Rechtsinstituten teilzuhaben; und zweitens ist dieses künstliche Einfrieren des Interim-Zustandes des rechtlosen Flüchtlings, die Verweigerung eines stabilen und dauerhaft sicheren Status keine zufällige Randerscheinung, sondern das Kernproblem und dies bereits vor der Flucht.
Das Beispiel der Niederlande mag dies verdeutlichen . Bis vor wenigen
Jahren galt die Praxis der niederländischen Behörden gegenüber
irakischen Asylsuchenden als ausgesprochen liberal. Der Irak befand
sich bis 1998 auf der Liste jener Länder, die als generell
unsicher angesehen werden, was es vielen Flüchtlingen ermöglichte,
einen Aufenthaltsstatus zu erlangen, ohne ein formelles Asylverfahren
zu durchlaufen. Die auf sie angewandte Regelung sah entsprechend
des Dauerhaftigkeitsgrundsatzes der GFK vor, dass nach drei Jahren
befristeter Aufenthaltserlaubnis in der Regel eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis
erteilt wurde. Auch außerhalb dieser Regelung lag die Anerkennungsquote
von irakischen Flüchtlingen, die einen Asylantrag gestellt
hatten relativ hoch. Mit dem Beschluss des Europäischen Rates
vom Frühjahr 1998, die Bekämpfung der Fluchtbewegung aus
dem kurdischen Nordirak an die Spitze der Agenda zu setzen, wurde
der Irak von der Liste der unsicheren Staaten gestrichen. Zeitgleich
wurde im Länderbericht des niederländischen Außenamtes
der kurdische Nordirak erstmals als "sichere Fluchtalternative"
bezeichnet. Flüchtlinge aus dem Irak mussten also das formelle
Asylverfahren durchlaufen, um einen Status zu erlangen, andererseits
sanken dort die Anerkennungsquoten rapide ab. Bis zum Jahr 2000
wurde die Anerkennungsquote von über 70% auf knapp 7% gesenkt.
Damit stellte sich in den Niederlanden dasselbe Problem, wie in
anderen europäischen Staaten auch: Die Zahl der anerkannten
irakischen Asylbewerber war zwar gesenkt worden, eine Möglichkeit
zur Rückführung aber existierte nicht. Die "freiwillige"
Ausreise scheitert zumeist an mangelnden Reisepapieren, die auszustellen
sich die irakische Vertretung einerseits weigert, deren Beantragung
andererseits mit einer Kompromittierung des Asylsuchenden verbunden
ist, die Repressionen nach sich ziehen kann. Abgelehnte irakische
Asylsuchende konnten dementsprechend nicht für die ausbleibende
Ausreise sanktioniert werden, solange sie sich nicht generell der
Kooperation mit den niederländischen Behörden verweigerten.
Dies änderte sich mit der im April diesen Jahres in Kraft getretenen
Novellierung des Ausländerrechts grundsätzlich. Als "Prinzip
der Selbstverantwortlichkeit" wurde der Grundsatz eingeführt,
dass mit der letztinstanzlichen Ablehnung der Staat die Verantwortung
vollständig abgibt. Dies bedeutet, dass ein Flüchtling
ab diesem Moment jeden legalen Status verliert und damit auch die
Berechtigung auf Sozialleistungen, medizinische Versorgung und Unterkunft,
unabhängig davon, ob er legal ausreisen kann oder nicht. Das
Schicksal der Betroffenen ist die absolute Rechtlosigkeit innerhalb
eines Rechtsstaates. Sie sind legal geschaffene Illegale.
Die größte Gruppe der Betroffenen stellen irakische Asylsuchende
dar. Zwischen 4.000 und 9.000 Betroffenen schwanken die Angaben,
wobei realistischerweise von 4.500 abgelehnten Asylsuchenden und
deren Familien auszugehen ist, die in nächster Zeit damit zu
rechnen haben, aus ihren Unterkünften geworfen zu werden. Im
Juli 2001 hat die Ausländerpolizei bereits mit derartigen Räumungsaktionen
begonnen.
Diese paradoxe Situation einer legalen Rechtlosigkeit trifft zugleich
für die gesamte Region des kurdischen Nordirak zu und stellt
eine der Hauptursachen für die anhaltende Fluchtbewegung dar.
Die Nähe war schon beim Entstehen der Region gegeben und genau
so die Rechtlosigkeit des internationalen Eingreifens zur Fluchtverhinderung.
Rund zwei Millionen Kurden, die vor dem irakischen Regime in die
Grenzgebirge zur Türkei und dem Iran geflohen waren, sollten
zur Rückkehr in den unsicheren Nordirak aufgefordert werden.
Truppenverbände der Anti-Irak-Koalition schufen einen "safe
haven", der weniger als ein Drittel der Region umfasste und
eine Flugverbotszone, die knapp unter zwei Dritteln der Region abdeckt,
wurde erklärt. Auf der Grundlage eines Memorandum of Understanding
zwischen den UN und der irakischen Regierung wurde den UN das Mandat
zur Versorgung rückkehrender irakischer Flüchtlinge im
Nordirak übertragen. "Um Kurden zur Rückkehr zu ermutigen,
beschrieben die Koalitionstruppen die UN-Wachmannschaften als Sicherheitsgarantie.
Sie verteilten mehrere hunderttausend Flugblätter, in denen
sie bekannt gaben, dass die Kurden in Sicherheit zurückkehren
könnten. Bald darauf begannen die auf kalten Bergpässen
an der türkischen Grenze festsitzenden Kurden ihre Heimkehr."
Eine Heimkehr, die auf falschen Versprechungen aufbaute, denn wie
die UN-Wachmannschaften, deren Mandat auf den Schutz von UN-Personal
beschränkt ist, so stellten sich auch die Bedingungen zur Selbstverwaltung
der "kurdisch verwalteten Region" schnell als weniger
sicher heraus, als es die Koalitionstruppen darstellten.
Eine völkerrechtliche Anerkennung der Region oder auch wenigstens
eine Festlegung ihrer Grenze zum restlichen Irak, hat es niemals
gegeben. Die maßgebliche Sicherheitsratsresolution bestärkt
im Gegenteil an zentraler Stelle die nationale Integrität und
Souveränität des Irak. Daraus folgte, dass weder die 1992
selbstgewählte kurdische Regierung, noch ihre Verwaltungsstrukturen
jemals anerkannt wurden. Faktisch zwar existent und im regionalen
Kräftespiel gezwungen, eine eigene "Außenpolitik"
zu betreiben, wurde den Kurden auch unterhalb der völkerrechtlichen
Anerkennung der diplomatische Status verwehrt. Dies hatte weitreichende
Auswirkungen auch auf die ökonomische und soziale Entwicklung
der Region. Da die Leistung bilateraler Entwicklungshilfe nicht
möglich war, beschränkten sich die Hilfsmaßnahmen
weitgehend auf humanitäre Nothilfe, die an den nicht anerkannten
Verwaltungsstrukturen vorbei verwaltet wurde. Lokale Verteilungsstrukturen,
die den Parteiorganisationen angegliedert waren, verfügten
so von Anfang an über mehr Einfluss als die gewählte Regierung.
Wenn schon nicht die Ursache, so muss doch zumindest ein Katalysator
für den Mitte der Neunziger Jahre offen ausbrechenden Parteienkrieg
in dieser Widersprüchlichkeit gesucht werden.
Die eigentliche Gefahr des vagen Status der Region aber liegt in
ihrem Verhältnis zum irakischen Staat begründet. Völkerrechtlich
integraler Bestandteil des Irak, könnten schon morgen wieder
irakische Panzer in die Region einrollen, ohne dass internationales
Recht gebrochen würde, ist Saddam Hussein doch legitimer Hausherr
auch im Nordirak. Kein Schutzmechanismus, keine Kontrollkommission
existiert, die ihn an einem solchen Schritt hindern könnte.
Die Ereignisse vom September 1996, als die irakische Armee für
die kurze Dauer von 24 Stunden in geringe Teile der Region einrückte
und Hunderte vermeintlich Oppositioneller verhaftete oder bereits
vor Ort exekutierte, führte der Bevölkerung der Region
eindringlich vor Augen, wie wenig auf die Schutzversprechen der
einstigen Anti-Irak-Koalition zu geben ist. 48 Stunden nach dem
Einmarsch schlugen amerikanische Cruise Missiles in militärischen
Einrichtungen bei Bagdad ein, ohne dass nur einer der hingerichteten
oder verschleppten Iraker durch sie geschützt oder befreit
worden wäre. Und genau diese Perspektive, die keine vage Drohung,
sondern unter den bestehenden rechtlichen Bedingungen des Nordirak
dessen Bestimmung ist, stellt jedes auf die Zukunft gerichtete Handeln
in der Region in Frage. Alles, was in Irakisch-Kurdistan unternommen
und aufgebaut wird, steht daher unter dem Makel des Übergangs.
Weder wurde eine eigene Verfassung oder Rechtsprechung geschaffen,
noch das Polizei und Verwaltungswesen grundlegend umstrukturiert.
Ein sicheres Gemeinwesen, das seinen Bürgern Schutz und Rechte
gewährt, ist aber ohne die zumindest angenommene Perspektive
der Dauerhaftigkeit nicht möglich. Die gesamte Region befindet
sich daher im Zustand eines gesamtideellen Flüchtlings, in
einem Interim-Zustand, in dem Geschick und Vorsicht die fehlenden
Rechte ersetzen müssen.
Dass der kurdische Nordirak weiterhin als sichere Fluchtalternative
gilt, liegt nicht alleine im Grundsatz der Berücksichtigung
der zum aktuellen Zeitpunkt geltenden Situation im Asylrecht begründet.
Bevor Gerichte entscheiden, werden Länderberichte und Lageeinschätzungen
verfasst. Im Fall des Nordirak hat das deutsche Außenamt eine
Lösung gefunden, die den völkerrechtlichen Bedingungen
entspricht und dennoch eine Sicherheit suggeriert, die von den "Experten
vor Ort", nämlich den Menschen, die in der Region leben,
ganz anders eingestuft wird. Im Bericht über die asyl- und
abschieberelevante Lage in der Republik Irak wird zwar mittlerweile
eingeräumt, dass die irakische Regierung theoretisch ihre Kontrolle
auch auf die kurdischen Gebiete ausdehnen könnte, doch lägen
derzeit keine Hinweise dafür vor, dass sie dies auch zu tun
gedenke. Dabei müsste das Auswärtige Amt es eigentlich
besser wissen.
Mit freundlicher Unterstützung des Bundesausfuhramtes und Bundeswirtschaftsministeriums
wurde im Juli 2001 erstmals seit Verhängung des UN-Embargos
gegen den Irak eine deutsche Handelsvertretung in Bagdad eröffnet.
Auf der jährlichen Bagdader Industriemesse waren deutsche Unternehmen
im Oktober 2001 wieder mit einem eigenen Pavillon vertreten. Was
sich die Lieferanten von Schwertransportern, Fertigungstechnikunternehmen
und die chemische Industrie von einem Land versprechen, das unter
Embargo steht? Die Frage ist zugleich eine Antwort: Bei der Eröffnung
der deutschen Handelsvertretung forderten der Vorsitzende der Nordafrika
und Mittlerer Osten Interessengemeinschaft im BDI, Lederer von der
Babcock Borsig AG, und BDI Vorstandssprecher von Wartenburg die
Bundesregierung demonstrativ auf, endlich wieder diplomatische Beziehungen
zum irakischen Regime aufzunehmen und eine Botschaft in Bagdad zu
eröffnen. Ihre Offensive ist möglich, weil das internationale
Sanktionsregime gegenüber Bagdad schon längst so löchrig
wie Schweizer Käse ist. Auf 1,5 Milliarden US-Dollar Reingewinn
wurde der Schwarzhandel des Regimes für 2000 geschätzt.
Seitdem dürfte einiges dazugekommen sein: Saudi Arabien hat
seine Restriktionen gegen den Irak beendet und in 2001 bereits Waren
im Wert von rund 650 Mio. US-Dollar in das Land ausgeführt.
Zwischen Jordanien und dem Irak besteht ein bilaterales Abkommen,
das eine tägliche Ölausfuhr von 90.000 Barrel außerhalb
aller UN-Sanktionsbestimmungen vorsieht, von denen heute bereits
60.000 Barrel pro Tag geliefert werden. Von der restlichen Eroberung
des irakischen Marktes scheidet die Industrie derzeit nur noch die
internationale Isolierung des Regimes. Dessen Rehabilitierung ist
derzeit näher als jemals zuvor in den vergangenen zehn Jahren.
Eine Rehabilitierung des Regimes aber bedeutet das Ende des demokratischen
Experiments im Nordirak.
Dass dabei ausgerechnet die deutsche Industrie Schützenhilfe
leistet, die seinerzeit für die Produktion von chemischen Kampfstoffen
verantwortlich war, die gegen die kurdische Zivilbevölkerung
eingesetzt wurden, lässt das Szenario nicht ungefährlicher
erscheinen. Würden die Wirtschaftsseiten der FAZ in Dohuk,
Arbil und Suleymaniyah gelesen, die Massenflucht hätte bereits
begonnen.
Und auch dies sollte nicht vergessen werden: Wenn das Embargo dank wirtschaftlicher Interessen fällt, dann wird auch ein praktisches Rückschiebehindernis fallen und abgelehnte irakische Asylbewerber werden reihenweise auf dem Luftweg rausgeschafft werden.
Lassen Sie mich am Ende noch auf einen bemerkenswerten Tatbestand hinweisen, der meine anfängliche These über den Begriff des Flüchtlings stützt. Als man mich aufforderte, ein Referat über kurdische Flüchtlinge aus dem Iran und dem Irak zu halten, hatte man natürlich nicht die Flüchtlinge im Sinne; sondern vielmehr die Situation vor und nach der Flucht. Ich habe versucht mich weitestgehend daran zu halten und der großen Masse an Menschen, die sich irgendwo dazwischen befinden, bislang genau so wenig Aufmerksamkeit geschenkt, wie dies üblicherweise und fast zwangsläufig geschieht. Über ihr Schicksal erfährt man höchstens aus den Randnotizen der Tageszeitungen, wenn wieder einmal ein seeuntüchtiger Kahn in der Ägäis gekentert ist oder am Rande der Berichterstattung über die sogenannte Schleuserkriminalität. Wer auf LKW-Ladeflächen und in Schiffscontainern versteckt reisen muss, darf aus Gründen der eigenen Sicherheit schon nicht fassbar sein. Was ihm auf dem langen Weg dazwischen widerfährt, spielt folgerichtig auch im späteren Asylverfahren keine Rolle, außer wenn es darum geht festzustellen, ob er über ein sicheres Drittland einreiste, und wird von ihm selbst im Exil überlagert mit der Erinnerung an die "Heimat". Auf wie vielen Tagungen wie dieser, in wie vielen Blättern beschäftigen sich Kurden im Exil mit ihrer "Heimat", ohne dass zumeist dieses Interim, das die Voraussetzungen aller Exiltätigkeiten ist, thematisiert würde. Ich möchte also am Ende kurz aus einem Zeitungsartikel zitieren, in denen das "Dazwischen" beobachtet wird. Der Text stammt aus dem Berliner Tagesspiegel vom 16. Januar 2001 und beschreibt eine Szene im griechischen Hafen Patras im Frühling dieses Jahres.
"Kurz nach Einbruch der Dunkelheit verabschiedet sich Ferhad
von den Freunden. Auf Wiedersehen in Deutschland', ruft er
lachend. Dann geht er mit seinem Rucksack hinunter zum Hafen. Aber
nach drei Stunden ist er schon wieder zurück. Hat nicht
geklappt', sagt er kleinlaut.
Unten am Hafen war der junge Kurde auf die Ladefläche eines
Fernlasters geklettert. Versteckt zwischen Kisten und Kartons hoffte
Ferhad, unbemerkt an Bord der Autofähre Ikarus' zu kommen,
die am Abend Kurs aufs italienische Ancona nehmen würde. Doch
schon an der Einfahrt zum Hafen, bei der ersten Kontrolle, spürten
die Männer der Hafenpolizei den blinden Passagier auf und beförderten
ihn unsanft auf die Straße.
Aber Ferhad lässt sich nicht entmutigen. Er will es bald wieder
probieren. Manche hier haben es schon vier oder fünf Mal versucht.
'Irgendwann schafft man es', glaubt Ferhad. Hunderte Armutsflüchtlinge,
überwiegend Kurden aus Nordirak, aber zunehmend auch Asiaten
und Afrikaner, warten im griechischen Hafen Patras auf ihre Chance.
Hier legen die Fährschiffe nach Italien ab. Da drüben
ist unsere Zukunft', sagt Ferhad und zeigt über das Meer nach
Westen, in den Sonnenuntergang."