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"Das beste, was wir tun können, ist zu fliehen ..."

Deserteure in Irakisch-Kurdistan

Auch nach der totalen Niederlage im 2 Golfkrieg ist die irakische Armee die größte des arabischen Nahen Ostens. Gerade die Eliteeinheiten der republikanischen Garden haben den Krieg unbeschadet überstanden. Noch immer stehen im Irak schätzungsweise 400 000 Menschen unter Waffen. Allerdings hat die Moral der regulären Soldaten einen Tiefpunkt erreicht, und die Anzahl derer, die desertieren wächst von Monat zu Monat.

So leben alleine in der kurdischen Großstadt Sulemania über 250 ehemalige Soldaten, die über die innerirakische Demarkationslinie geflüchtet sind. Die Zahl der Deserteure, die nach 1991 in den befreiten kurdischen Nordirak geflohen sind wird auf ca. 4500 geschätzt. Viele von ihnen schließen sich den bewaffneten Verbänden der Opposition, vor allem des Iraqi National Congresses (INC) an, denn für diejenigen, die auf sich alleine gestellt in den kurdischen Städten ein ziviles Leben führen wollen gibt es so gut wie keine Unterkunft noch Beschäftigungsmöglichkeiten. Trotzdem steigt die Zahl derjenigen, die die gefährliche Flucht in die befreiten Gebiete wagen.

Desertion hat im Irak eine lange Tradition, ein Umstand, der eng mit der völligen Militarisierung der irakischen Gesellschaft unter dem Saddam Regime zusammenhängt. Seit Ende der siebziger Jahre war es das vornehmliche Ziel des Regimes die modernste und schlagkräftigste Armee des Nahen Ostens aufzubauen und so zur Hegemonialmacht in der Region zu werden. Außerdem wurde die Armee benötigt, um jedweden Widerstand gegen die Diktatur niederzuschlagen. Obwohl mit hohen Verlusten verbunden gab der 1 Golfkrieg Saddam Hussein die Möglichkeit diesem Ziel näherzukommen. Denn als "Garant des Westens" und gewinnbringender Absatzmarkt lag den westlichen Industrienationen, allen voran Frankreich [1]. Deutschland [2] und Großbritannien an der Aufrüstung des Iraks. Während Frankreich Flugzeuge und Exocet Raketen lieferte, wurde mit deutscher Hilfe die chemische Industrie des Irak aufgebaut und die Anlagen für die Verbessung von Scud Raketen geliefert. Um Widerstand in Gesellschaft und Armee gegen den Krieg brechen zu helfen, wurden im Westen - aber auch in der DDR - hohe Funktionäre der Republikanischen Garden und des berüchtigten Militärgeheimdienstes ausgebildet und trainiert, die bis heute die regulären Soldaten und Rekruten terrorisieren und bespitzeln. Für die Soldaten gab es so gut wie keine Möglichkeiten sich zu wehren oder Widerstand zu leisten, außer sie desertierten. Wie viele Iraker sich während des 1 Golfkrieges dem Militärdienst entzogen ist nicht bekannt. Schätzungen gehen davon aus, daß mehre zehntausend Soldaten in den Iran oder die unkontrollierbaren Sumfgebiete im Südirak geflohen sind.

Den schnellen Sieg im Bodenkrieg verdankten die Soldaten der Anti-Irak Koalition nicht zuletzt dem Umstand, daß die irakischen Truppen massenhaft kapitulierten oder überliefen. Gedankt wurde ihnen das nicht; die Lage in den Kriegsgefangenenlager in Saudi Arabien war - und ist- Berichten von Amnesty zufolge katastrophal.

Auch an den Aufständen im Südirak 1991 beteiligten sich einfache Soldaten, die ersten Schüsse, die in Basra den Volksaufstand einleiteten wurden von ihnen abgegeben. Die Alliierten dagegen schonten die Republikanischen Garden und sahen außerdem zu, wie diese die Aufstände im Süden und Norden blutigst niederschlugen. Viele Soldaten flohen nach der Niederlage der Intifada in die Sumpfgebiete, von wo sie ihren Widerstand fortsetzten. Wiederum unter Duldung des Westens wurden diese Gebiete seit 1991 systematisch zerstört und entvölkert.

Berichten des irakischen Oppositionsbündnisses Iraqi National Congress zufolge führte die irakische Armee zwischen 1991 und 1993 einen regelrechten Völkermord im Südirak durch. Zehntausende wurden ermordet, hunderttausenden wurde ihre Lebensgrundlage genommen, wurden vertrieben oder deportiert. Angaben der britischen Hilfsorganisation Amar Appeal zufolge leben mehr als 400.000 Flüchtlinge alleine aus dem Südirak in iranischen Flüchtlingscamps unter schlimmsten Bedingungen. Berichte über derartige Gewaltexzesse und Vernichtungskampagnen durchgeführt von irakischen Armee-Einheiten gibt es reichlich. Deserteure, die in den Sumpfgebieten aufgegriffen wurden folterte und erschoß man standrechtlich.

An den Massenhinrichtungen, den Folterungen und den Völkermordkampagnen der irakischen Regierung sind vor allem die verschiedenen Geheimdienste und die Eliteeinheiten der Republikanischen Garden beteiligt. Soldaten, aber auch Offiziere, die sich weigern an solchen Schlächtereien teilzunehmen, werden selber brutal bestraft. Der INC berichtet von mehreren Massenexekutionen in irakischen Militärcamps. [3]

Das irakische Regime fürchtet seit langem Massendesertionen und verhängt deshalb drakonische Strafen gegen Deserteure. So erließ Saddam Hussein 1994 ein Dekret, daß jedem eingefangenem Deserteur ein Ohr abgeschnitten, und bei zweimaliger Desertion ein Brandzeichen in die Stirn eingedrückt wird [4]. Außerdem werden Familienangehörige bestraft, ein Vorgehen, das im Irak gang und gebe ist. Bestenfalls wird den Familien die monatliche Nahrungsmittelration gestrichen und der Strom abgestellt, oder sie werden in andere Landesteile deportiert, schlimmstenfalls werden Familienmitglieder eingesperrt oder ermordet.

Aber die Situation regulärer Armee-Einheiten ist nicht nur von Terror und Unterdrückung geprägt, auch die materielle Versorgung stellt sich katastrophal dar. Weder gibt es genug Nahrungsmittel noch medizinische Versorgung. Befragte Deserteure berichten, daß sie teilweise tagelang keine Mahlzeit, sondern nur trockenes Brot erhalten hätten. Regelmäßig erfrieren Soldaten im Winter, weil ihre Ausrüstung unzureichend ist. Ihr Monatsold reicht nicht einmal für einen einmaligen Besuch der Familie. Lediglich die Republikanischen Garden sind bestens versorgt und ausgerüstet, ihre Gehälter wurde in den letzten Jahren verzehnfacht und der rasenden Inflation angepaßt. Saddam Hussein und seine Clique wissen nur zu gut, daß sie sich nicht auf die regulären Truppen verlassen können. Dies haben im letzten Jahr erneut Aufstände verschiedener Armee-Einheiten gezeigt.

Obwohl das Regime kein Geld hat, werden immer noch neue Jahrgänge zwangsrekrutiert. Niemand im Irak hat eine legale Möglichkeit sich dem Militärdienst zu entziehen, außer er stammt aus einer der Familien, die das Regime stellen. Entsprechend demotiviert treten die Rekruten den Militärdienst an; schon bei der Niederschlagung der Aufstände im Süden und später im Norden 1991 konnte das Regime sich nicht auf die regulären Truppen verlassen, die beispielsweise massenhaft in Kurdistan zu den Peschmergas überliefen.

Die katastrophalen Umstände veranlassen weit mehr der jungen Soldaten nachts über die Demarkationslinie zu fliehen als politisches Engagement. Wer schon sich schon vorher politisch im Irak betätigt hat, was äußerst riskant ist, und überläuft, schließt sich meistens den bewaffneten Verbänden der Parteien oder des Iraqi National Congresses (INC) an. Dieser alleine verfügt über ungefähr 4000 Soldaten in Irakisch-Kurdistan. Der Großteil der "normalen" Deserteure aber will einfach ein ruhiges Leben führen.

Fluchtmöglichkeiten gibt es neben Kurdistan so gut wie keine, Kuwait und Jordanien sind nicht erreichbar und im Iran versucht der "Hohe Rat der Islamischen Revolution im Irak" unter Bader, die Deserteure sofort in seine Reihen einzugliedern. Diese islamistische Bewegung hat vor allem während des 1 Golfkrieges Deserteure eingesammelt und geschult. Bis vor einem Jahr waren diese Truppen im Iran stationiert und - ähnlich den iranischen Volksmujahedin im Irak - Drohpotential gegen den Feind. Seit Sommer 1995, errichteten die Badertruppen erste Garnisonen in Kurdistan in Kifri und Kalar nahe der Demarkationslinie. Seitdem versuchen sie verstärkt Deserteure zu werben, aber die wenigsten haben ein Interesse für die proiranischen Islamisten zu kämpfen. Deshalb stellt der Iran keine Alternative für sie dar. Das bisherige Rückzugsgebiet, die Sumpfgebiete im Südirak gibt es faktisch nicht. Wer sich im Süden dem Militär entziehen will, ist auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen; so sollen in den Städten Amara, Basra und Nasserya einige Deserteure untergetaucht sein.

Die meißten aber überqueren nachts die Demarkationslinie, wobei sie teilweise bis zu acht Stunden laufen müssen, ständig gefährdet vom Sicherheitsdienst der Armee aufgegriffen zu werden. Ist die erste Stadt auf kurdischen Gebiet erreicht, melden sie sich entweder bei einer Partei oder dem Asaiysch der kurdischen Sicherheitspolizei, wo sie einen Ausweis erhalten. Danach können sie sich frei in Irakisch-Kurdistan bewegen, Restriktionen gibt es keine. Allerdings kümmert sich auch niemand mehr um sie, es sei denn sie bleiben bei einer Partei als Peschmerga.

Viele der jungen Soldaten haben bisher nichts außer Krieg, Not und Unterdrückung kennengelernt. Ein normales Leben kennen sie nicht. Andere sind seit über zehn Jahren eingezogen, haben den 1. Golfkrieg miterlebt und waren dann während des 2. Golfkrieges in der Wüste im Süden stationiert. Man hat sie nicht aus der Armee entlassen, weil sie sich "auffällig" benommen haben; eine Strafe des Regimes. Diese Deserteure hatten nie die Chance, sich politisch zu bilden oder zu organisieren. So ist dann auch das politische Programm der wenigsten klar umrissen. Immer wieder hört man nur den Wunsch, Saddam möge bald stürzen und das Embargo aufgehoben werden.

Außerdem bleibt den wenigsten Zeit für politische Auseinandersetzungen, ihr Leben ist bestimmt von der alltäglichen Existenzsicherung. Für sie besteht die einzige Möglichkeit darin, in die kurdischen Großstädte zu gehen, um Arbeit oder Unterkommen zu finden. Da allerdings in Kurdistan 80% der Städter arbeitslos sind, haben die Deserteure kaum eine Chance. Wer Glück hat, findet einen Job als Tagelöhner. Der Rest ist aufs Betteln angewiesen, wobei hiermit fast niemals der Preis für die Übernachtung in einem Billigsthotel und eine warme Mahlzeit pro Tag abgedeckt wird. Teilweise tragen Deserteure, die schon über ein Jahr in Kurdistan leben, noch immer ihre Uniform, da das Geld fehlt sich zivile Kleider zu kaufen. Auch bangen diejenigen, die ohne Familie geflohen sind, um das Schicksal ihrer Angehörigen. Für die meisten von ihnen gibt es keine Nachrichten, ob gegen ihre Familien Strafaktionen durchgeführt wurden oder nicht.

Auf Feindseligkeiten in der kurdischen Bevölkerung ist niemand der Befragten gestoßen. Vielleicht glaubt man im Westen, es gäbe bedeutende "ethnische" Konflikte in Irakisch-Kurdistan. Schließlich war es Saddams Armee, die in den 80er Jahren mit der Anfal Kampagne Kurdistan verwüstete. Aber die meisten Menschen in Kurdistan machen nicht die einzelnen Soldaten für die Katastrophe verantwortlich. Vielmehr werden sie, solange sie nicht den Eliteeinheiten der Republikanischen Garden angehören, ebenfalls als Opfer des Regimes angesehen. Schließlich ist es auch die kurdische Bevölkerung von deren Wohlwollen die ehemaligen Soldaten materiell abhängig sind.

Ein Vertreter der irakischen Opposition in Sulemania schätzt, daß jede Woche zwischen 10 und 15 Soldaten in die Stadt kommen, wieviele es im Norden bei Dohuk sind, kann er nicht sagen. "Wenn sich hier jemand um die Deserteure kümmern würde, es Lebensmittel und Unterkünfte gäbe, würde deren Zahl enorm ansteigen. Dies wäre eine effektive Möglichkeit die Lage der Armee weiter zu destabilisieren", fährt er fort. Dementsprechend meint auch N., der schon 1991 in den Nordirak geflohen ist, daß es notwendig sei, die Überläufer zu unterstützen, "denn das Beste, was wir im Moment für unser Land tun können, ist nach Kurdistan zu fliehen".

Es ist an der Zeit, auch hier darüber nachzudenken, wie diesen Deserteuren geholfen werden kann. Ihrem Entschluß, sich der mörderischen irakischen Militärmaschinerie zu entziehen sollte unsere Solidarität gelten.

Thomas von der Osten Sacken (Mitarbeiter von WADI e.V.)
(erschienen in analyse & kritik 387, 8.2.1986, und inamo)

Anmerkungen


[1] Jacques Chirac und Saddam Hussein waren in den 80er Jahren Duzfreunde und besuchten sich gegenseitig zu ihrem Geburtstag.

[2] Kinkel, damals Chef des BND, bezeichnete sich als guten Freund des Leiters des irakischen InlandsArmeegeheimdienstes.

[3] Z.B. im Infantry Training Centre bei Hillah und der Militärbase in Mahawil, wo im März 1991 über Wochen täglich ca. 120 Menschen erschossen wurden. INC - Crimes Against Humanity Report

[4] UN Menschenrechtsbericht über den Irak 1994


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